Gut zusammen leben
Zeit für eine neue Achtsamkeit

„Wie ich mein Gegenüber sehe und wahrnehme, beeinflusst wie ich mich ihm gegenüber verhalte und wahrscheinlich am Ende auch, wie er sich mir gegenüber verhält.“ | Foto: iStock/Tanja Ristic
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  • „Wie ich mein Gegenüber sehe und wahrnehme, beeinflusst wie ich mich ihm gegenüber verhalte und wahrscheinlich am Ende auch, wie er sich mir gegenüber verhält.“
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„Das Recht auf individuelle Entfaltung hat – so scheint es – für viele heute mehr Gewicht, als der gesellschaftliche Zusammenhalt“, sagt P. Anselm Grün, Benediktinerpater, Theologe und Autor.

Angesichts der Corona-Krise und all der Dinge, die damit in den vergangenen Monaten einhergegangen sind, hofft er auf ein Umdenken. „Ich denke, es braucht eine neue Achtsamkeit – für uns selbst, für unsere Mitmenschen und die Welt, die uns umgibt“, sagt er im Gespräch mit dem SONNTAG: „Nur dann ist ein gutes Leben für alle möglich.“

Anselm Grün
Pater Anselm Grün Benediktinerpater, Theologe und Autor

Es war im Grunde nur ein unscheinbarer A4-Zettel auf einem schwarzen Brett in einem Wohnhaus in Wien: „Wir bieten allen – vor allem den älteren – Bewohnern dieses Hauses an, für sie einkaufen zu gehen“, stand da und weiter: „Wir gehören nicht zur Risikogruppe und helfen gerne. Bitte melden sie sich einfach bei uns.“ Dazu eine Tür- und eine Telefonnummer.
Ein unscheinbarer A4-Zettel, aber im Grunde vor allem ein Zeichen des Zusammenhalts, ein Akt der Solidarität, wie es ihn in den vergangenen Monaten immer wieder und in den unterschiedlichsten Bereichen gab.
 „Vor allem am Anfang der Coronakrise hat man für dieses Miteinander viele berührende Beispiele gefunden“, sagt dazu Anselm Grün, Benediktinerpater, Theologe und Autor: „Ich möchte sogar sagen: Am Anfang der Krise gab es eine neue Solidarität, die klar spürbar und erlebbar war. Da war ein Zusammenhalt, eine Hoffnung, dass wir die Krise miteinander überwinden können. Ich bin überzeugt davon, dass das etwas war, was jedem Einzelnen Kraft gegeben hat. Man war nicht allein. Nicht mit seinen Sorgen, nicht mit seinen Gedanken, im Grunde nicht einmal mit seiner Einsamkeit.“

Die Solidarität bröckelt
Doch gerade in den vergangenen Wochen bemerke er immer wieder, dass diese Solidarität bröckelt. „Die eigenen Wünsche durchzusetzen, scheint manchen wichtiger zu sein als alles andere“, sagt Anselm Grün. „Im Grunde kann man sagen, dass das keine große Überraschung ist. Die Tendenz, nur für sich sorgen zu wollen – ohne Rücksicht auf Gemeinschaft findet sich nun einmal genauso in einer Gesellschaft wie die Solidarität.“ Und im Grunde sei das auch keine neue Entwicklung.

„Wir leben in einer Zeit, in der viele Modelle von Gemeinschaft in einer Gesellschaft nicht mehr so funktionieren, wie früher. Religionsgemeinschaften, Parteien, Vereine verlieren Mitglieder und haben Schwierigkeiten, neue zu finden.“

Das sei auf den ersten Blick vielleicht noch kein großes Problem. Aber im Grunde sei es eben so, dass nur in einer Gesellschaft, in der in den Grundfesten zusammengehalten wird, ein gutes Leben für alle möglich ist. „Und wir kommen deshalb wohl um die Frage nicht herum, wie dieser Zusammenhalt – wieder – herstellbar ist.“ Jetzt in Zeiten der Krise, aber genauso darüber hinaus.

Zeit für eine neue Achtsamkeit
„Ich würde in einer Situation wie der derzeitigen auf eine neue Achtsamkeit hoffen“, sagt Pater Anselm Grün. Eine neue Achtsamkeit uns, unseren Mitmenschen und auch der Umwelt gegenüber. „Und die Frage ist doch, wie sich eine solche neue Achtsamkeit entwickeln kann? Mir als Benediktinerpater kommen dabei natürlich gleich unsere Ordensregeln in den Sinn.

Ich bin davon überzeugt davon, dass wir als Gesellschaft und gerade im Hinblick auf ein gutes Zusammenleben, gerade in dieser Situation einiges von diesen alten Weisheiten abschauen können. Immerhin gibt es seit 1.500 Jahren benediktinische Gemeinschaften und unser Ordensgründer hat Regeln verfasst, hat Haltungen formuliert, die das Gelingen des Miteinanders möglich machen. Viele verschiedene Menschen kommen in unseren Gemeinschaften zusammen, leben miteinander. Es ist – natürlich – keine ,heile Welt‘. Aber wir halten es miteinander aus. Und der Grundgedanke ist auch bei uns: Wie können wir gut miteinander leben und nicht gegeneinander.“

Das Gute sehen

Was aber gehört jetzt zu diesen Regeln, diesen Haltungen und was meint Pater Anselm Grün mit dieser neuen Achtsamkeit?

„Eine der grundlegendsten Dinge ist es zunächst einmal, immer das Gute in unserem Gegen­über zu sehen. Es sehen zu wollen, dass auch sein Verhalten Ausdruck einer tiefen Sehnsucht ist. Das klingt im ersten Moment vielleicht gar nicht so schwer, aber es meint natürlich auch das Gute in jemandem zu sehen, den ich so gar nicht verstehe, der anderer Meinung ist“, betont Anselm Grün.

„Wie ich mein Gegenüber sehe und wahrnehme, beeinflusst wie ich mich ihm gegenüber verhalte und wahrscheinlich am Ende auch, wie er sich mir gegenüber verhält.“ Wir Menschen hätten die Tendenz zu schnell zu bewerten, zu beurteilen, zu verurteilen. „Das ist in uns drinnen. Aber wenn wir gut miteinander auskommen wollen, dann dürfen wir einander nicht nur auf das festlegen, was uns zuerst ins Auge sticht.

Nehmen wir als Beispiel die verschiedenen Ansichten im Hinblick auf Corona: Es ist wirklich kontraproduktiv einfach nur zu sagen: Mit dem oder der will ich nichts zu tun haben, denn der denkt nur an sich. Das hilft überhaupt nicht weiter.“

Verständnis füreinander haben
Um das Gute im anderen zu sehen, brauche es außerdem eine große Portion Verständnis – auch für andere Denkweisen, andere Sichtweisen. „Dass man unterschiedlicher Meinung ist, kommt natürlich überall vor“, sagt dazu Anselm Grün: „Wir sind Menschen. Mit unterschiedlichen Geschichten, unterschiedlichen Zugängen zum Leben. So viele verschiedene Wege des Seins treffen aufeinander. Und trotzdem müssen wir uns wenigstens um ein gegenseitiges Verständnis bemühen.“

Ein Verständnis, das meist nicht automatisch da ist. „Vielmehr müssen wir uns dafür entscheiden, Verständnis zu haben“, zeigt sich Pater Anselm Grün überzeugt: „Wir müssen den Willen haben, dieses Verständnis aufbringen zu wollen. Das kann man lernen – und man kann es, ich möchte sogar sagen man muss es, auch immer wieder üben.“ Im Grunde gehe es darum, den Menschen, der vor mir steht nicht nur zu sehen, sondern mit all seinem Sein wahrzunehmen, zu akzeptieren und auch ihn auch so sein zu lassen, wie er ist.“

Konflikte gehören dazu
Und das Alles muss mit einer großen Portion Realitätssinn einhergehen. „Ich muss sozusagen mit der Realität rechnen“, sagt P.­ Anselm Grün: „Das bedeutet etwa auch, dass ich mit Konflikten rechnen muss. Konflikte gehören nun mal zum Leben dazu.“

Wer meint, dass Konflikte ein Zeichen sind, dass unser Leben nicht gelingt, wird bei jedem Konflikt ungeheuer viel Frust spüren. Wer aber versucht Konflikte zu lösen, miteinander zu lösen, wer versucht Kompromisse zu finden, die für alle akzeptabel sind, wird in den allermeisten Fällen zu einem guten Miteinander kommen können. „Daran zu arbeiten, lohnt sich für jeden Einzelnen von uns.“

Autor:

Andrea Harringer aus Wien & NÖ-Ost | Der SONNTAG

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