Vorwürfe gegen die Kirche
Sind Kirche und Glaube noch zeitgemäß?

Foto: iStock/Domagoj Burilovic

Ein Vorwurf, mit dem die katholische Kirche öfter konfrontiert wird, ist die Frage, ob der Glaube und die Kirche überhaupt (noch) zeitgemäß ist. Sind wir verstaubt, oder sind wir relevant und am Puls der Zeit im Leben der Menschen – auch noch 2020 Jahre nach Christi Geburt?

1. Ist die Kirche verstaubt?

Regina Polak © kathbild.at/Ruprecht
Univ. Prof. Regina Polak lehrt Pastoraltheologie an der Universität Wien

Regina Polak: Mir gefällt in Bezug auf die Kirche weder das Wort verstaubt noch das Wort zeitgemäß. Beide Begriffe bringen die fundamentale Spannung nicht zum Ausdruck, die bereits in biblischen Texten zu beobachten ist: Nämlich das Ringen von jüdischen und christlichen Gemeinden mit der Frage, wie die Balance zwischen Anpassung an die jeweilige Zeit und der immer auch notwendige Widerstand zu halten ist. Die biblischen Texte versuchen, je nach Kontext, Antworten darauf zu finden. Permanenter Widerstand ist pubertär, eine Kirche, die sich nur anpasst, wird ihrem Auftrag, auch kritische Prophetie zu üben, nicht gerecht. Deswegen verwende ich lieber das Wort zeitgerecht: im Sinne der Gerechtigkeit der Zeit und ihren Entwicklungen gegenüber, im Einsatz für Gerechtigkeit und rechtzeitig. Man kann nötige Entwicklungen auch verschlafen.

Matthias Beck: Ich würde sagen, das trifft in Teilen zu: Es liegt mancher Staub und manche Asche auf dem glühenden Feuer. Aber das göttliche Feuer ist nicht auszulöschen, wir müssen nur den Staub wegräumen. Darunter ist es großartig und mitten am Puls der Zeit. Warum? Weil wir gerade jetzt die Zerbrechlichkeit der Welt erfahren. Der Christ kann sich festmachen in Gott. Das meint der Begriff „Glaube“. Das ist das einzige, was wirklich trägt. Wir erleben es gerade in diesen Tagen. Die Welt ist geradezu entkoppelt. Daher gilt es neu, dem Menschen zu helfen, seine innere Anbindung neu zu finden. Es gilt, das Alte auf neue Weise zu vermitteln: Neuer Wein in neue Schläuche, heißt es im NT. Wir müssen jeden Tag daran arbeiten, den Menschen etwas Positives zu vermitteln: Dass Gott und der Glaube für den Alltag etwas bringen, dass man bessere Entscheidungen treffen kann, dass man eine Firma besser führen kann, dass Beziehungen zum Partner, zu den eigenen Kindern und Enkelkindern besser werden.

2. Hängt das verstaubte Image auch am Altersschnitt der Gottesdienst-Besucher? In manchen Pfarren gibt es kaum Jugendliche.

Matthias Beck
Univ. Prof. Matthias Beck lehrt Moraltheologie an der Universität Wien und ist Priester

Regina Polak: Das kann, muss aber nicht sein. Ich kenne z.B. viele ältere Ordensschwestern und Priester, die sind mehr am Puls der Zeit als so manche junge Mitschwester bzw. Mitbruder. Freilich bringt der hohe Altersschnitt vieler Gemeinden einige Probleme mit sich: Junge Menschen finden da oft keinen Ort, und ältere Menschen tun sich manchmal schwerer, liebgewonnene Gewohnheiten zu verändern. Dennoch glaube ich nicht, dass die Frage des Alters die entscheidende ist: wenn es gelingt, die Tradition im Licht von Gegenwart zum Leuchten zu bringen, kann das auch für junge Menschen attraktiv sein – gerade, weil es anders ist, als das, was man ohnedies schon kennt. Entscheidend ist: Reagiert man auf Fragen, die heute auf der Seele brennen?

Matthias Beck: Ich kenne manche jüngere Leute, die schon sehr alt im Geiste sind. Und umgekehrt viele ältere Menschen, die junggeblieben sind. Das verstaubte Image muss deshalb nicht nur am Alter hängen. Aber es ist schon etwas dran. Es zeigt sich durchaus, dass viele jüngere Menschen nicht mehr in den Pfarren beheimatet sind oder wenn doch, dann weil Freunde dort noch sind. Viele suchen Anschluss bei Bewegungen. Pfarren, in denen der Altersdurchschnitt vorsichtig geschätzt bei 65 bis 70 Jahren liegt, – empfinden junge Menschen oft als veraltete oder als alternde Kirche. Ich habe seit einigen Jahren zwei spirituelle Gruppen (insgesamt 30 Personen), in denen wir – wie ich glaube – eine gute alltagstaugliche Spiritualität vermitteln, mit einer Art Exerzitien im Alltag und existentieller Bibelinterpretation und da interessieren sich mehr und mehr auch junge Menschen dafür.

3. Welche Bereiche in der Kirche sind Ihrer Meinung nach besonders am Puls der Zeit?

Regina Polak: Alles, was die Kirche sagt und tut, das die Würde und Transzendenz jedes einzelnen Menschen in Erinnerung ruft: Sei es in den Debatten um Pflege und die Sterbebegleitung, in Fragen der Migration, der marginalisierten Gruppen. Aber auch alles, was die Verantwortung für das gesellschaftliche Gemeinwohl, Solidarität und Gerechtigkeit betrifft. Nicht zuletzt dann, wenn die Kirche Räume öffnet, in denen Menschen ihre religiösen Fragen und Sehnsüchte zum Ausdruck bringen und Antworten finden können.

Mag sein, dass all dies auch auf gesellschaftliche Kritik stößt insbesondere in der Flüchtlingsfrage: aber es ist am Puls der Zeit, weil es das ist, wozu wir von Gott her verpflichtet sind.

Matthias Beck: Ich bin Mitglied in der Päpstlichen Akademie für das Leben in Rom, da haben wir regelmäßig unsere Tagungen. Bisher ging es dabei meistens um Fragen nach Abtreibung und der Sexualmoral. Ich weiß schon, dass das wichtige Themen sind, aber meiner Meinung nach sollten wir das nicht immer wieder in den Mittelpunkt stellen. Leben ist viel umfassender zu sehen. Deswegen habe ich es als wohltuend zeitgemäß empfunden, dass wir bei der letzten Tagung stattdessen über das Thema „Künstliche Intelligenz“ und die möglichen Auswirkungen auf die Welt gesprochen haben. Das war mal was Neues! Und generell haben wir in der Kirche Vieles, was am Puls der Zeit ist: Papst Franziskus hat etwa eine Umwelt-Enzyklika geschrieben, damit wir als Kirche eine Vorreiterrolle bei der Umweltfrage einnehmen. Genau das finde ich sehr gut an diesem Papst, der sagt, dass wir für die Welt generell eine gestalterische Aufgabe übernehmen müssen. Dass die Kirche für die Welt und für die Menschen da ist, nicht für sich selber. Wir müssen Vordenker sein, denn wir haben sogar einen Heiligen Geist als Person , mit dessen Hilfe wir präventiv nach vorne schauen können, damit wir dann reaktionsfähig sind, wenn die Dinge tatsächlich eintreffen.

4. Wie schaut Ihre Idealvorstellung von einer zeitgemäßen Kirche aus?

Regina Polak: Eine zeitgerechte Kirche ist tief im Glauben verankert und mit der Fülle und Vielfalt ihrer Tradition vertraut. Zugleich ist sie in der Lage, diesen Glauben im Gespräch mit den Menschen in die Sprachen der verschiedenen Kulturen und Milieus zu übersetzen und nachvollziehbar zu machen. Deshalb ist eine zeitgerechte Kirche immer auch eine zuhörende, eine dialogische, eine lernende Kirche. Darum wird Bildung in Zukunft ein zentrales pastorales Thema sein. Und die Basis, um glaubwürdig zu sein, ist die gelebte Praxis: die Seelsorge für den Einzelnen, die Lebensbegleitung, das Engagement in der Gesellschaft. Wichtig wäre es auch, ansprechende ästhetische Formen der Verkündigung zu entwickeln: durch Kunst, durch Literatur, vor allem in der Liturgie. Eine zeitgerechte Kirche biedert sich dabei nicht an, aber sie lädt ein, fordert heraus und inspiriert.

Matthias Beck: Vielleicht kommen wir drauf, dass wir nicht zu viel über Verbote, sondern mehr über die lebenspendende und lebensfördernde Kraft des Christentums reden. Wie kann eine gute Spiritualität im Alltag helfen, seine Berufung zu finden und fest in Gott verankert zu sein? Glauben heißt sich festzumachen in Gott. So sollten wir vermitteln, was das Christentum für Europa bringt. Was bringt es für den Einzelnen, was für mich ganz konkret und für mein Leben, für meine Beziehungen, für alles was ich tue.

Wir müssen endlich wieder diesen positiven Drive in das Christentum bekommen, den wir von Anfang an hatten. Wenn ich mir also eine zeitgemäße Kirche vorstelle, dann eine, die ganze 2020 Jahre nach Christi Geburt auf diese genannten Kerngrundlagen setzt. Das war damals eine Revolution, das hat die Zeitrechnung verändert, das hat alles verändert. Als Kirche müssen wir wieder dafür brennen – genauso stelle ich mir eine moderne Kirche vor.

Serie: Vorwürfe gegen die Kirche

Autor:

Michael Ausserer aus Wien & NÖ-Ost | Der SONNTAG

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