Darf man ein Leben lang trauern?
Ein Schutztuch fürs Leben

Das rote Halstuch, Marias „Schutztuch“, das sie einst für eine Afrikareise von ihrer Mutter bekam, muss auch heute noch auf jede Reise mit. | Foto: M. Necker
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  • Das rote Halstuch, Marias „Schutztuch“, das sie einst für eine Afrikareise von ihrer Mutter bekam, muss auch heute noch auf jede Reise mit.
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Wie lebt es sich mit einem riesigen Verlust? Darf und soll man ein Leben lang trauern? Ja, sagt Maria A. mit Überzeugung. Sie verlor mit Anfang 20 knapp hintereinander Vater und Mutter. Liebevolle Erinnerungen und aufbewahrte Schätze begleiten sie durch ihr Leben.

Maria A. erinnert sich an eine behütete Kindheit, liebevolle Eltern und Geschwister. „Meine Eltern waren beide Geographielehrer und wir sind sehr viel gereist. Mir ist es so gut gegangen, dass ich oft Angst hatte, etwas Schlimmes könnte passieren“, so die junge Frau.

Dann erkrankte der Vater an Lungenkrebs. „Ich war damals als Teenager mit dieser Situation überfordert. Meinem Vater ging es sehr schnell sehr schlecht. Innerhalb kürzester Zeit gab es keine Normalität mehr.“ Der Vater verstarb nur fünf Monate nach seiner Diagnose. „Ich weiß, wie ein Mensch stirbt. Wie das geht. Welche lichten Momente es gibt. Ich weiß noch, dass ich bei meinem Vater gesessen bin und gespürt habe, wir sind gemeinsam da und doch auch nicht mehr. Es war für mich mit Anfang 20 beinahe zu intensiv“, sagt Maria rückblickend.

Das heile Zuhause war weg
Nur vier Monate später passierte das Unfassbare. Marias Mutter starb bei einem Autounfall. Schlagartig waren sie und ihre Geschwister Vollwaise. „Das war an Absurdität nicht zu übertreffen. Die Nachbarin kam mit einem Polizisten und ich habe sie einfach nur angeschrien, dass das ja alles nicht wahr sein kann. Dass wir ja vielleicht noch was machen können! Ich hatte dann so eine Angst, dass meinen Geschwistern was passiert. Ich habe sie angefleht, dass sie einfach nur mit dem Zug fahren“, erinnert sich Maria.

Dann war das nächste Begräbnis zu organisieren. Das Begräbnis sei etwas unglaublich Wichtiges für das ganze soziale Umfeld gewesen. Danach gingen die Geschwister ihrer Wege. Maria fuhr zurück in ihr Studentenheim. „Dann war ein Wochenende und ich konnte nicht nach Hause fahren. Ich konnte nicht mehr in meine heile Welt zurück. Ich war verdammt dazu, ein ganzes Wochenende in diesem schrecklichen Studentenheim zu verbringen.“

Wenn Worte fehlen
Maria war zum Zeitpunkt des Verlustes beider Elternteile Anfang 20. Gefühlt habe sie sich wie ein Kind, sagt sie rückblickend. Liebevolle Freunde hätten sie in den ersten Trauerjahren aufgefangen. Damals sei ihr vor Augen geführt worden, dass ihr Schicksal viele Bekannte auch überfordert habe. „Die Erwachsenen in unserer Umgebung waren total mitgenommen. Manche haben sich einfach nicht mehr gerührt bei mir. Ich denke, sie wussten nicht, wie sie mit mir umgehen sollten. Es gab plötzlich viel Trennendes. Es fehlen eben oft die Worte, wenn jemandem etwas Schlimmes passiert.“

Ein leeres Elternhaus
Fünfzig Jahre alt waren die Eltern von Maria A., als sie ihr Leben lassen mussten. Das Elternhaus stand dann leer. Die ersten Male, als Maria ins Haus hineinging, sah sie gewisse Szenen vor sich. Die Mama, wie sie ihr entgegenkommt und es riecht nach frisch gekochtem Essen. Die Mama, die sich unglaublich freut, wenn die Kinder heimkommen, und die große Jause für die ganze Familie. Plötzlich war das Haus beim Heimkommen kalt und unbeheizt.

22 Jahre später lebt Marias Bruder mit seiner Familie im Haus der Eltern. „Das Haus hat eine neue Bedeutung bekommen, es gibt jetzt einfach andere Rituale des Ankommens.“

Wertvolle Erinnerungen
Ihre Eltern, sagt Maria, trage sie ganz viel mit in ihrem Leben. Als Maria ihre eigenen Kinder bekam, wurden die Erinnerungen an sie wieder stärker. Ihren eigenen Kindern erzählt sie viel von den Großeltern: „Ich greife viele Traditionen auf, wie den Butterbrotfisch, das Butterbrot in Fischform geschnitten. Oder die Trinchen Tranchen Trunchen Geschichten, erfunden von meiner Mama. Sie haben in unserer Familie eine Fortsetzung gefunden.“

Ein Erinnerungsstück ist für Maria besonders wichtig, das geliebte Schutztuch ihrer Mama. „Ich bin nach der Matura losgezogen auf Weltreise und ich wollte unbedingt auch nach Afrika. Ich habe meine Eltern damals mit Fax gefragt, ob ich nach Afrika reisen dürfe. Und mein Vater hat begeistert geantwortet, ich solle den schwarzen Kontinent entdecken!

Bevor ich losgeflogen bin, habe ich sie noch in London getroffen. Und meine Mutter hat mir ein Halstuch als kleinen Talisman mitgegeben. Ein Gegenstand, der mich immer an sie erinnern sollte. Bis heute nehme ich das Tuch auf jede Reise mit. Es vermittelt mir Schutz und Sicherheit“, sagt Maria. Ihre Familie weiß, dass das Schutztuch immer mitkommen muss.

Ein Leben lang erinnern
Landläufig spricht man von einem Trauerjahr, von Phasen der Wut und Trauer bei einem Verlust eines geliebten Menschen. Irgendwann, heißt es, habe man dann damit abgeschlossen. „Aber ich habe noch nicht damit abgeschlossen und ich will es auch nicht“, sagt Maria. „Ich will, dass die wertvolle Verbindung zu meinen Eltern immer da ist. Diese Liebe ist ein Teil von mir und macht mich aus.

Ich darf auch noch mit 42 Jahre meine Eltern vermissen und ich darf sie beweinen. Denn die Liebe war ein großer Teil von uns, und sie ist immer noch da.“

Das rote Halstuch, Marias „Schutztuch“, das sie einst für eine Afrikareise von ihrer Mutter bekam, muss auch heute noch auf jede Reise mit. | Foto: M. Necker
Roland Kachler - Meine Liebe findet dich. Der Wegweiser für Trauernde, 560 Seiten, Kreuz Verlag, ISBN 978-3-451-61327-2, EUR 25,90  | Foto: Kreuz Verlag
Autor:

Michaela Necker aus Wien & NÖ-Ost | Der SONNTAG

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