15. November - Welttag der Armen
Jedem Menschen Würde und Ansehen

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Die Erstkontakte in den Sozialberatungsstellen der Caritas sind seit Beginn der Corona-Pandemie massiv angestiegen. Anna Parr, neue Generalsekretärin der Caritas, spricht im Interview mit dem SONNTAG über die zunehmende Armut in Österreich und plädiert für einen Pakt für Kinder. Ihr Wunsch: „Dass wir jedes einzelne Kind in Österreich auf eine aussichtsreiche Zukunftsreise mitnehmen.“

Anna Parr ist die neue Generalsekretärin der Caritas Österreich. Mit ihr agiert erstmals eine Frau in dieser Leitungsfunktion. Anlässlich des Welttages der Armen spricht die gebürtige Wienerin und studierte Volkswirtin im Interview mit dem SONNTAG über die derzeit größten sozialen Herausforderungen – inwiefern verstärkt die Corona-Pandemie aus ihrer Sicht Armut in Österreich?


Anna Parr

ANNA PARR: Auf die Lebensrealität von Armutsbetroffenen wirkt die Corona-Pandemie wie ein Brennglas: Sie verstärkt vorhandene Not und erhöht den Druck, dem diese Menschen ausgesetzt sind. Das Geld reicht für viele am Ende des Monats kaum noch für ein volles Einkaufswagerl. Man kann jetzt schon erkennen, dass die Armut in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist.

  • Wie macht sich die verstärkte Not in der Arbeit der Caritas bemerkbar?

In unserer täglichen Arbeit begegnen wir Menschen, die schon vor der Krise in einer Krise waren, aber immer häufiger auch Menschen, die noch nie auf unsere Hilfe angewiesen waren und auch niemals gedacht hätten, dass sie Hilfe von der Caritas benötigen würden. In Teilen Niederösterreichs hatten wir zum Beispiel in unseren Sozialberatungsstellen seit Anfang der Pandemie im März um 41 Prozent mehr Erstkontakte als im Vorjahr, in der Steiermark um 37 Prozent.

  • Welche Menschen sind stark betroffen?

Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit setzen vielen Menschen, vielen Familien zu. In unsere Sozialberatungsstellen kommen zu zwei Drittel Menschen mit Kindern, davon sind überproportional viele Alleinerziehende aber auch Neue Selbständige oder Ein-Personen-UnternehmerInnen. Es sind Menschen, denen durch die Krise das Einkommen weggebrochen ist und die nicht wissen, wie sie Mieten oder Energierechnungen bezahlen sollen.

  • Ein großes Problem sind die Arbeitslosenzahlen – wie können aus Ihrer Sicht auch in der Zukunft (Stichworte Digitalisierung, Globalisierung, mangelnde Qualifizierung) Arbeitsplätze in Österreich geschaffen werden?

Rekordarbeitslosigkeit erfordert auch Rekordverantwortung! Je länger die Krise dauert, umso größer der Druck, der auf den Schultern vieler in unserem Land lastet. 41 Prozent aller arbeitslosen Menschen sind heute armutsgefährdet. Dauert die Erwerbslosigkeit ein Jahr an, steigt die Quote auf 45 Prozent. Es braucht daher jetzt deutlich mehr Mittel für eine aktive Arbeitsmarktpolitik, damit Menschen jetzt nicht in die Langzeitarbeitslosigkeit abrutschen oder aus ihr nicht mehr rausfinden.

  • Was brauchen Kinder aus armen Familien, um für eine bessere Zukunft gerüstet zu sein?

Ich plädiere stark für einen Pakt für Kinder. Um allen Kindern eine altersgerechte Entwicklung, soziale Teilhabe und ein Leben ohne Armut zu ermöglichen, braucht es mehrere Säulen: eine materielle Absicherung der Familien, Investitionen in Bildung und Gesundheit. Laut offizieller Statistik waren in Österreich schon vor der Corona-Krise 231.000 Kinder und Jugendliche armutsgefährdet. Das ist unerträglich für ein wohlhabendes Land wie Österreich. Hier braucht es jetzt einen breiten politischen Schulterschluss.

  • Die Armen im Blick zu behalten sei „schwierig, aber notwendiger denn je“. Es komme darauf an, „sein Leben konkret einzubringen“, schreibt Papst Franziskus in seiner Botschaft zum Welttag der Armen 2020. Was kann uns helfen, die Armen im Blick zu behalten?

Jede und jeder Einzelne von uns kann etwas tun – im Großen wie auch im Kleinen. Es geht auch darum, jedem Menschen Würde und Ansehen zu geben – und das bedeutet, man muss sie und ihn ansehen, hinhören, da sein und eben tun, was es im Moment braucht und zu tun ist. Um bei der Arbeit der Caritas zu bleiben: Man kann das Kältetelefon anrufen, wenn man den Eindruck hat, jemand lebt auf der Straße. Oder jemandem eine warme Mahlzeit spendieren, einer Familie einen Wocheneinkauf ermöglichen oder in einer der zahlreichen Lebensmittelausgaben und Lerncafés mithelfen.

  • Was liegt Ihnen zum Thema „Armut“ besonders am Herzen?

Besonders wichtig ist mir die Bekämpfung von Kinderarmut. Denn Kinderarmut ist immer auch Chancenarmut! Alle Kinder brauchen dieselben Chancen und ich wünsche mir, dass wir jedes einzelne Kind in Österreich auf eine aussichtsreiche Zukunftsreise mitnehmen. Ein gemeinsames Ziel muss sein, Kinderarmut in Österreich abzuschaffen. Ich bin überzeugt, wir können dieses Ziel erreichen.

siehe auch:
Armut im Alter

Autor:

Agathe Lauber-Gansterer aus Wien & NÖ-Ost | Der SONNTAG

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