Vorwürfe gegen die Kirche
Die Kirche ist (zu) mächtig

Von Papst Calixt III. (1378-1458) wurde ein frommes Pontifikat ohne Nepotismus erwartet. Es kam anders. Er ernannte seinen Neffen Rodrigo Borgia (späterer Papst Alexander VI.) zum Kardinal. Der Name "Borgia" wurde zum Inbegriff des Nepotismus und für das Streben von Macht in Kirche und Staat ausgehend von einer Familie. Calixt III. ordnete mit der päpstlichen Bulle vom 29. Juni 1456 das bis heute übliche Mittagsläuten an. | Foto: Peter Horree / Alamy Stock Foto
  • Von Papst Calixt III. (1378-1458) wurde ein frommes Pontifikat ohne Nepotismus erwartet. Es kam anders. Er ernannte seinen Neffen Rodrigo Borgia (späterer Papst Alexander VI.) zum Kardinal. Der Name "Borgia" wurde zum Inbegriff des Nepotismus und für das Streben von Macht in Kirche und Staat ausgehend von einer Familie. Calixt III. ordnete mit der päpstlichen Bulle vom 29. Juni 1456 das bis heute übliche Mittagsläuten an.
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„Wie viele Divisionen hat der Papst?“, soll Stalin einst spöttisch gefragt haben, um auf die Ohnmacht der Kirche hinzuweisen. Die eigentliche Macht der Kirche sind aber das Wort und die Tat, sagen die Pastoraltheologin Regina Polak und der Moraltheologe Matthias Beck. Damit ist die Kirche wirklich „mächtig“.


  • Ist die Kirche mächtig? Vorurteil oder Realität?
Regina Polak © kathbild.at/Ruprecht
Univ. Prof. Regina Polak lehrt Pastoraltheologie an der Universität Wien

Regina Polak: Ja, aus globaler Sicht ist die Kirche mächtig, allein schon durch die Zahl der Gläubigen. In Europa ist die Kirche zwar im Vergleich zum globalen Süden immer noch sehr reich, aber ihr Einfluss auf die Gesellschaft sinkt. Plötzlich müssen sich Bischöfe rechtfertigen, Gläubige werden nicht mehr ernstgenommen, Theologen nicht mehr um ihre Meinung gefragt. In Österreich ist das neu und ungewohnt.

Macht beschreibt zunächst die Ressourcen, die jemand hat, seine Interessen durchzusetzen: seine Beziehungsnetzwerke, materielle und geistige Ressourcen, Handlungsspielräume. Macht ist keine absolute Größe, sie ereignet sich zwischen Menschen und Institutionen.

Die Bibel kann man auch als einen Entwurf lesen, wie man anders mit Macht umgehen lernen kann, dass Macht nicht herrschen, sondern dienen bedeutet. In Mk 10,35-45 sagt Jesus, dass es bei uns nicht so sein soll wie bei den Herrschern dieser Welt: Diese Bibelstelle bezieht sich auf den Umgang mit Macht. Und das wesentliche Moment christlicher Macht ist die Macht der Ohnmacht, der man am Kreuz des Jesus von Nazareth begegnet.


Matthias Beck
Univ. Prof. Matthias Beck lehrt Moraltheologie an der Universität Wien und ist Priester

Matthias Beck: Das hängt davon ab, was man unter Macht versteht. Wenn es eine äußere Macht ist, die den Menschen unterdrückt und entmündigt, ist diese Macht nicht gut. Dann ist es hilfreich, wenn diese Macht verloren geht. Ein Stück weit passiert das gerade in Europa. Wenn es aber eine innere Macht ist, die von Gott dazu ermächtigt ist, dem Menschen zu helfen, dass sein tiefstes Wesen und seine Individuyalität zum Vorschein kommt, dann ist es eine gute Macht.

Die eigentliche Macht sollte die Autorität Gottes sein, eine innere Autorität, die den Menschen wachsen lässt. Das Wort Autorität kommt von „augere“: wachsen lassen. Es gibt nur eine Autorität, die wichtig ist. Das ist die innere Autorität Gottes in mir, der Heilige Geist in mir, der auch im Evangelium und den Sakramenten wirkt. Diese göttliche Autorität will mich groß machen und wachsen lassen.

Die Kirche war zu mächtig und autoritär und hat den Menschen erstickt. Wenn diese Autorität bricht, ist das gut, damit die andere zum Vorschein kommt.


  • Aber die Kirche braucht doch Strukturen und Autorität…

Regina Polak: Die Bibel zeigt in vielen Erzählungen, wie die übliche Art des Herrschens scheitert, weil sie das Leben von Menschen beschädigt. Und ja, weil Macht eine menschliche Realität ist, braucht sie Regelungen, Strukturen und Autorität. Daher spielen im Alten Testament Recht, Gerechtigkeit und Teilhabe, die im Dienste des guten Leben jedes Einzelnen und aller gemeinsam stehen, auch eine solche zentrale Rolle. Auch Jesus steht in dieser Tradition.

Macht wird entsakralisiert, sie muss immer wieder gebändigt und zivilisiert, institutionell gerecht verteilt werden. Die Kirche kennt ein ganzes Set an Autoritätsinstanzen: vom Lehramt der Kirche, dem Lehramt der Theologen bis zum Glaubenssinn der Gläubigen und der Geschichte, die in einem komplexen Zusammenspiel den Umgang mit Macht miteinander gerecht gestalten sollen.

Macht muss auch in der Kirche immer wieder neu gebändigt und zivilisiert werden. Aber dass sie Macht hat, ist an sich normal und auch gut. Wie soll sie sich in einer Gesellschaft mit so vielen machtvollen Strukturen sonst Gehör verschaffen?


Matthias Beck: Natürlich brauchen wir eine Struktur und Autorität. Aber wir müssen immer sehen, wozu sie dient. Ob also Selbstzweck oder ob sie zur inneren Autorität Gottes in mir hinführt. Gott finden in allen Dingen, so sagt es Ignatius von Loyola. Kirche ist ein Hilfs-Instrument, ein Sakra-ment, ein heiliges Mittel.

Im Himmel gibt es keine Kirche mehr. Und das ist leider in der Kirchengeschichte oft verwechselt worden. Oft wird gefragt: Wie können wir die Kirche attraktiver machen, damit mehr Leute kommen? Da sage ich: Ihr habt ein Wort nicht richtig verstanden, das ist ein Jesus-Wort: Kommt zu MIR. Wir müssen die Menschen zu Jesus führen, zu Gott führen, dazu soll die Kirche ein Hilfs-Instrument sein. Und wenn sie das gut macht, dann werden die Leute von alleine in die Kirche kommen. Da muss man sie nicht attraktiver machen.

Wenn wir die Menschen nicht zu Gott führen und ihnen nicht erklären, warum eine Gottes-Beziehung so wichtig für ihr Leben ist, hat die Kirche ihren Auftrag verpasst.


  • Hat die Kirche in der Öffentlichkeit überhaupt noch ein Gewicht? Um wirklich gesellschaftlich mitreden zu können?

Regina Polak: Die Kirche verliert in Österreich, in Europa die Hegemonie, die Vorherrschaft und das Deutungsmonopol für religiöse Fragen. Aber vielleicht tut ihr das sogar gut, weil sie ihre Bedeutung und ihren Einfluss nun anders sichtbar machen muss und kann als durch politische oder andere gesellschaftliche Netzwerke.

Die Frage nach der Macht wird von einer Frage der Quantität in eine der Qualität verwandelt. Und Minderheiten haben oft auf eine gewisse Weise mehr Einfluss als die satte und selbstzufriedene Mehrheit, das gilt im Negativen wie im Positiven.

Als das Christentum Staatsreligion wurde, handelte es sich um vielleicht 10% der Bürger im Römischen Reich. Aber diese Gemeinden hatten eine immense gesellschaftliche Wirkung: Sie waren Orte, an denen sich Menschen aus verschiedenen sozialen und kulturellen Gruppen versammelten, sie kümmerten sich um jene, die für das Imperium als nutzlos galten, sie entwarfen ein Lebenskonzept, in dem Religion und Ethik zusammengehörten, denn davor war Religion nur der Kult und die Philosophen kümmerten sich um Weltanschauung und Ethik.

Das Christentum bot quasi eine Art „Gesamtpackage“. An dieser Erinnerung kann man sehen, welch wichtige Bedeutung auch Minderheiten haben können. Auch die zu erwartende Diaspora-Situation birgt zahlreiche neue Möglichkeiten.

Matthias Beck: Im Moment eher wenig. Christentum müsste eine Autorität zur Selbstentfaltung und zur Gestaltung der Welt sein. Das wäre der Punkt und nicht zu Unterdrückung. Mitreden können wir zur Zeit wenig. Im Gegenteil: Autorität verspielt. Wir müssen ziemlich von vorne anfangen.

Kultur unterrichten, Geschichte unterrichten. Ich habe ein Interview gegeben zum Thema Allerheiligen, Allerseelen. Da wurde ich gefragt: Wie ist das mit dem Tod? Dann sagte jemand: Wie es mit dem Tod ist, wissen wir nicht, es ist ja noch keiner zurückgekehrt. Dann sage ich: Doch. Einer ist zurückgekehrt. Das feiern wir an Ostern als Auferstehung, und das feiern wir jeden Sonntag. Wir müssen wieder ganz niederschwellig ansetzen. Wenigstens die Kinder, die Schüler aufklären über das, was das Christentum an Großartigem hervorgebracht hat. Den Sonntag. Die Feiertage. Ostern, Weihnachten, Pfingsten. Mozart, Beethoven, Schubert. Menschenwürde, Hochschätzung des Einzelnen. Wir müssen wieder die Großartigkeit des Christentums hervorstreichen.

Wir Christen haben die Hochschätzung des Individuums, die gibt es so nirgends auf der Welt. Das müssen wir wieder zeigen. Dann bekommen wir wieder Autorität, aber die Autorität des Geistes und des Argumentes und nicht jene des Apparates.


  • Worin besteht also die wahre Macht der Kirche?

Regina Polak: Die Macht der Kirche ist zum einen das heilende und sinnstiftende, orientierende Wort, oft auch „nur“ die eine, wichtige, vergessene Frage. Zum anderen die heilende und helfende, segnende Tat für den Anderen. Beides gehört untrennbar zusammen. Beides bleibt oft unerhört, ohne zunächst sichtbare Wirkung und Erfolg.

Die wahre Macht der Kirche ist in gewissem Sinn ohnmächtig, weil sie auf politische oder ökonomische Mittel der Durchsetzung verzichtet. Aber genau deshalb kann sie vielleicht mehr an freier und freiwilliger Zustimmung erreichen als jede Form von autoritärer Durchsetzung von Eigeninteressen. Das müssen wir wahrscheinlich erst lernen.

Im Buch Exodus verbietet der Pharao Moses und Aaron, die Arbeit zu unterbrechen und in der Wüste ein Fest zu feiern. Er erhöht sogar die Arbeitslast, so sehr fürchtet er die ohnmächtige Macht einer betenden Gemeinschaft, die sich dem Ethos Gottes verpflichtet weiß.

Matthias Beck: Wenn die Kirche zu mächtig ist, dann ist sie an dem Punkt zu mächtig, wo sie den Menschen nicht hilft, zu Gott, zu Jesus zu kommen. Wir brauchen Priester und Gläubige, die spirituelle Lehrer sind, die die Menschen hinführen zu Gott, damit ihr Leben besser gelingt. Das wäre die einzige Aufgabe.

Im Namen Gottes kann die Kirche Antworten geben auf die letzten Fragen des Lebens, nach dem Sinn des Lebens, der Endlichkeit, nach dem Leid, nach Tod und Auferstehung. Niemand kann etwas sagen über das Leben über den Tod hinaus als Gott allein. So hat er sich offenbart, das feiern wir zu Ostern: Kirche ist also Verkünderin des Wortes und Wirkens Gottes. Und hier besteht genau die Gefahr des Machtmissbrauches. Sie darf sich niemals an die Stelle Gottes setzen. Sie kann auch Gott nie ganz erreichen.

Die Wahrheit ist lebendig, sie ist keine starre Formel. „Ich bin die Wahrheit“ sagt Jesus, ein lebendiger Mensch. Dieser Wahrheit kann man sich nur annähern, man hat sie nie vollständig. Wenn die Kirche – und damit jeder Einzelne – durchlässig ist für diese Wahrheit, erfüllt sie ihren Auftrag. Das geht nur in Demut. Wenn sie den Blick auf Gott verstellt, verpasst sie ihren Auftrag.

Serie: Vorwürfe gegen die Kirche

Autor:

Stefan Kronthaler aus Wien & NÖ-Ost | Der SONNTAG

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