Das berühmte Gleichnis vom verlorenen Sohn in einer neuen Lesart
Die verlorenen Söhne

Henri Nouwen (1932-1996) | Foto: Frank Hamilton/Wikipedia
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Einer der großen geistlichen Schriftsteller der vergangenen Jahrzehnte, Henry Nouwen, hat dem Thema Barmherzigkeit ein beeindruckendes Buch gewidmet: „Nimm sein Bild in dein Herz“. 

Es ist eine Zufallsbekanntschaft. Henri J. M. Nouwen steht vor einer Bürotür. Da fällt sein Blick auf einen Poster. Der gefeierte Professor einer Elite-Universität sieht das Bild des berühmten niederländischen Malers Rembrandt, „die Rückkehr des verlorenen Sohnes“. Eine Begegnung, die sein Leben verändern sollte.

Heimgekehrt von einer langen Vortragsreise, die ihn bis zur Erschöpfung fordert, besucht Nouwen eine Freundin – doch statt aufmerksam dem Gespräch zu folgen, schweifen seine Gedanken ab. Immer wieder wird er von dem Bild im Hintergrund in seinen Bann gezogen. „Ständig starrte ich auf das Poster… als ich ihn sah, ging mein Herz auf,“ erinnert sich Nouwen. Das Bild an der Bürotür führt ihn tiefer hinein in eine Wandlung, deren Folgen beim kurzen Gespräch im Büro längst nicht abzusehen sind: Nouwen, er ist Professor der amerikanischen Elite-Universität Harvard und erfolgreiche Schriftsteller, beendet seine Karriere und schließt sich der Arche-Gemeinschaft an. Dort lebt er fortan mit Menschen mit Behinderungen.
In seinem Buch „Nimm sein Bild in dein Herz“ (Herder Verlag) erzählt er, wie er dank der Betrachtung des Rembrandt-Bildes „die Rückkehr der verlorenen Sohnes“ das gleichnamige Gleichnis Jesu besser versteht und sich vor seinen inneren Augen allmählich ein neues Gottesbild entwickelt.

Geistliche Krise. Henri Nouwens Begegnung im Büro und Betrachtung des Rembrandt-Bildes geht Hand in Hand mit einer geistlichen Krise. „Jahrelang hatte ich Studenten in den vielfältigen Fragen des geistlichen Lebens unterwiesen und sie zu überzeugen versucht, wie wichtig es ist, über ein solches Leben nicht zu reden, sondern es zu leben. Hatte ich jedoch selber jemals wirklich gewagt in die Mitte zu treten, niederzuknien und mich von einem vergebenden Gott umarmen zu lassen?“ erzählt Nouwen – und: „Ich konnte mir nicht vorstellen, wie schwer es sein würde, wirklich Teil jenes großen Ereignisses zu werden, das in Rembrandts Bild dargestellt ist.“

Der jüngere Sohn. Eine der Schlüsselerfahrungen Henri Nouwens ist, dass Zählbares vor Gott keinen Eindruck macht. „Die dunklen Stimmen der Welt versuchen mich zu überzeugen, dass ich nur dann gut werde, wenn ich mir mein Gutsein verdiene, wenn ich es mir auf der Leiter der Leistung und des Erfolgs erarbeite.“ Diese Erfahrung entdeckt er in jenem Sohn, der zuerst mit seinem Vater gebrochen hat und dann als Habenichts zu ihm zurückkehrt. Getragen vom Vertrauen, dass dort, wo die Verfehlungen groß sind, „die Gnade übergroß geworden ist“ (Paulus, Brief an die Römer 5). Und getragen von der Bereitschaft, „Gott Gott sein zu lassen und ihn alles Heilen, Wiederherstellen und Erneuern vollbringen zu lassen“. Nouwen: „Es geht darum, ein Kind Gottes zu werden.“

Der ältere Sohn. Die Geschichte vom verlorenen Sohn handelt von zwei Söhnen: der eine, der das gesamte Vermögen seines Vaters beim Fenster hinauswirft, der andere, der treu allen Verpflichtungen nachkommt und sich nichts zu Schulden kommen lässt. In der Betrachtung des Rembrandt-Bildes und nach gründlicher Studie der heiligen Schrift macht Nouwen eine für sich unerwartete Entdeckung. Ihm wird deutlich, dass die Umkehr dessen, der zu Hause blieb, die am schwersten zu vollziehende ist. „Der ältere Sohn tat äußerlich alles, was von einem guten Sohn erwartet wird, aber innerlich war er fern von seinem Vater. Er tat seine Schuldigkeit, machte Tag für Tag seine Arbeit und erfüllte alle seine Pflichten, aber mehr und mehr wurde er unglücklich und unfrei“. So verliert sich der ältere Sohn in Verbitterung. Als sein jüngerer Bruder zurückkehrt kann er sich nicht von Herzen freuen, er geht auf Distanz, bleibt dem Fest des Lebens fern. Doch der Vater sucht auch ihn und sagt: „Alles, was mein ist, ist Dein!“ Nouwen schließt daraus: „Die Liebe Gottes hängt weder von unserer Reue noch von unseren inneren oder äußeren Veränderungen ab … sie hängt ausschließlich von ihm selbst ab.“

Das Herz des Vaters. Die Bildbetrachtung führt Nouwen über die beiden Brüder zum barmherzigen Vater. In der Beschäftigung mit Rembrandts Bild treibt ihn die Frage um, weshalb der Künstler den barmherzigen Vater blind darstellt. Nouwen: „In dem Maße wie das Licht in seinem Schaffen innerlicher wird, beginnt er Blinde als die wahren Sehenden zu malen.“ Bedeutsam ist Nouwens Blick auf die so verschiedene linke und rechte Hand des barmherzigen Vaters. Die linke Hand ist kräftig und zärtlich, die rechte sanft und zärtlich. Für den Autor ein Hinweis, dass Gott ebenso Vater wie Mutter ist, „dass in Gott Vaterschaft und Mutterschaft voll und ganz gegenwärtig ist“. Nouwen: Die Hände des barmherzigen Vaters sind „nicht ausgestreckt, um zu erbitten oder zu ergreifen, zu fordern oder zu warnen, zu richten oder zu verurteilen. Es sind Hände, die alles geben und nichts verlangen, segnende Hände“.

Autor: Gilbert Rosenkranz

Buchtipp: Henri J. M. Nouwen, Nimm sein Bild in dein Herz. Herder Verlag 2016, 176 Seiten, € 22,70

Henri Nouwen (1932-1996) | Foto: Frank Hamilton/Wikipedia
Das gleichnamige Buch von Henri Nouwen, eine Kostbarkeit der Spiritualität.  | Foto: Herder-Verlag
Autor:

TIROLER Sonntag Redaktion aus Tirol | TIROLER Sonntag

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