Memoiren eines unbeugsamen Christen, Folge 21
Abbé Pierre

Viel später, während des Krieges, war ich mehrere Male in Lebensgefahr. Eine Situation war alles andere als banal. Das war im Hochgebirge nach der Begleitung jüdischer Familien in die Schweiz. Es war beim Abstieg zurück mit meinem Freund, dem Bergsteiger Léon Balmat. Wir fühlten uns erleichtert, wie so oft bei der Rückkehr, und seilten uns nicht an. Plötzlich glitt ich mitten im Gletscher aus. Ich erinnere mich genau, dass mir wäh­rend der Sekunden dieses tollen Losschießens in Erinnerung kam, was Léon uns beim Aufstieg erzählt hatte, als wir diese immense Gletscherspalte umgingen, auf die ich nun lossauste: „Wenn jemand in diese Spalte fällt, ist es unmöglich, ihn herauszuholen. Zuweilen geschieht es, dass man nach fünfzig Jahren unten am Gletschertor die Füße eines Typs entdeckt, den der Gletscher gefroren und völlig intakt ausspeit. So intakt, dass man sogar seine Ausweispapiere lesen kann.“

Die meinen waren bei dieser Gelegenheit gefälscht, doch sah ich sie schon im 21. Jahrhundert aufgetaut unter den Augen von neugierigen Bergwanderern. Ich hatte unglaubliches Glück: Mein Fuß schlug an eine Gletscherkrus­te, sodass mein Sturz wenige Meter vor der Spalte gestoppt wurde.

Noch ein weiteres Mal fürchtete ich wirklich, dass meine letzte Stunde geschlagen hat­te. Es war auf einem Flug zwischen Delhi und Bombay. Plötzlich wurde das Flugzeug heftig und ohne erkennbaren Grund geschüttelt. Der Pilot kehrte zurück und drehte zwanzig Minuten lang über Delhi, um für eine Notlandung das Flugbenzin abzulassen. In solchen Momenten denkt man, dass sich alle Passagiere nur mehr auf das Sterben gefasst machen. Es gab keinerlei Panik, und jedermann schien zu beten. Ich mei­ne, es ist wichtig, sich auf das Sterben vorzubereiten. Schließlich ging alles gut aus.

In der Folge publizierte ich in unserem Emmaus-Bulletin unter dem Titel „Das Ziel“ mei­ne Meditation über das Sterben, die diese Erfahrung in mir ausgelöst hatte. Diesen Artikel bekam Dr. Schweitzer im Leprosenhospital in Lambarene, Gabun, zu Gesicht. Da schrieb er mir einen schönen Brief, der folgendermaßen endete: „Ich danke dir für deinen Artikel, der mir hilft, mich auf mein eigenes Ende, das nun bald bevorsteht, vorzubereiten. Wenn die Stunde kommen wird, werde ich bitten, dass man dich davon unterrichte, damit du kommst, um mir in diesem entscheidendsten Moment meines Lebens beizustehen.“

Aber ich war sicherlich meinem Tod nie näher als während eines Schiffbruchs vor etwa fünfunddreißig Jahren. Ich hatte eine Arbeit für Emmaus in Uruguay beendet und begab mich nach Argentinien. Als ich mich auf das Flugzeug begeben wollte, wurde gemeldet, dass wegen Nebels alle Flüge annulliert seien. So stürzte sich alles auf ein Schiff, das im Hafen eben die Anker nach Buenos Aires lichtete. Wir waren natürlich zu viele, und die Mehrzahl der Passagiere bereitete sich darauf vor, in Fauteuils die Nacht zu verbringen. Ich traf dort zufällig einen französischen Priester namens Audinet, der mir seine Kabine anbot, und weil ich mich erschöpft fühlte, nahm ich das Angebot an.

Um vier Uhr morgens poltert er an meine Türe: „Auf, nehmen Sie Ihre Schwimmweste unter dem Bett, denn das Schiff sinkt!“ Tat- sächlich sah ich, dass es nach vorne zu sinken begann, während sich das hintere Ende mehr und mehr aus dem Meer hob. Schließlich befahl der Kapitän, dass sich jedermann ins Wasser stürzen soll.
Unter solchen Umständen sieht man, wie sich die eigentliche Tiefe jeder Person zeigt. Einige waren voller Würde und Solidarität. Andere hingegen stürzten sich wie Wölfe auf die wenigen Rettungsboote und jagten Frauen und Kinder weg, nur um sich selber einen Platz zu erobern. Ich erteilte kollektive Absolution und sprang schließlich auch ins Wasser. Es blieben nur etwa zwanzig Personen auf dem Schiff, hauptsächlich ältere Damen, die sich kategorisch diesem Zwangsbad verweigerten. Sie hatten Glück, denn sie stellten sich zusammen mit dem Kapitän, der sich entschlossen hatte, mit dem Schiff unterzugehen, auf die oberste Kommandobrücke. Ich las später in der Zeitung, dass das Schiff sich auf einer Sandbank festgesetzt hatte … und genau die Kommandobrücke über Wasser blieb.

Ich meinerseits hatte mich an eine große Kis­te gehängt, an der sich zehn andere festhielten. Die Schiffbrüchigen gruppierten sich im Übrigen nach Instinkt: Jene, die sich an ein Brett festklammerten, kamen einem isolierten Schwimmer zu Hilfe. Am anderen Ende meiner Rettungsplanke erzählte uns ein Südamerikaner allerlei dumme Geschichten, um uns moralisch auf der Höhe zu halten. Plötzlich schrie er: „Bist du nicht Abbé Pierre? Vive la France!“ Und er begann die Marseillaise zu singen. Nach mehreren Stunden im eisigen Wasser und vor Erschöpfung verlor ich zweimal das Bewusstsein.

Als ich wieder zu mir kam, war ich sicher, dass ich zu sterben hatte. Nachdem ich die Sünden meines Lebens bereut hatte, kam mir ein Gedanke, den ich seither nicht mehr vergessen konnte:
„Wenn man sein Leben lang nur versucht hatte, die Hand der Armen zu drücken, wird man im Moment seines Sterbens sicher auch die Hand Gottes in der seinen fühlen.“ Dann verlor ich von Neuem mein Bewusstsein.

Autor:

Kirche bunt Redaktion aus Niederösterreich | Kirche bunt

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