Memoiren eines unbeugsamen Christen, Folge 20
Abbé Pierre

Ein lange erwartetes
Rendezvous im Tod

Kürzlich hatte ich Gelegenheit, in Paris ein Lokal zu besuchen, einen sogenann­ten „Trauersalon“, wie sie seit einigen Jahren in manchen Ländern üblich geworden sind. Da können sich Trauerfamilien beim Verstorbenen versammeln.

Es ist ja klar, dass die modernen Lebens­umstände es mehr und mehr unmöglich machen, vor der Beerdigung oder Kremation einen Verstorbenen bei sich zu Hause aufzubahren. Gleichwohl konnte ich nicht umhin, mich zu fragen, ob solche Distanzierung vom Tod nicht auch problematische Folgen zeitige. Früher hat man den Tod zu Hause inmitten der Familie erlebt. Das war eine bedeutsame Le­bens­erfahrung, wo besonders auch die Kinder sich über den immer etwas als tabu behandelten Tod zusammen mit ihren Eltern unterhalten konnten. Es ist wichtig, dieser Frage nicht auszuweichen oder sich vom Problem zu dis­tanzieren.

Ich bin der Meinung, dass der Tod ein Teil des Lebens ist, ja sogar dessen starkes Moment, das ihm erst seinen Sinn gibt. Ich persönlich hatte die Chance, drei Personen, die mir viel bedeuteten, beim Sterben begleiten zu dürfen.

Das war zunächst mein Vater. Ich war mit ihm allein, als er seinen letzten Atemzug tat. Seit Monaten hatte er mit einer schweren Krankheit gekämpft. Wenige Tage zuvor hatte er einen seiner Cousins, einen Jesuiten, gefragt: „Charles, darf ich nun Gott bitten, sterben zu dürfen?“ Er war ein Mann starken Glaubens. Nie kann ich seinen Todeskampf vergessen. Sein Gesicht war zuweilen von großem Schrecken gezeichnet, und ich vermutete einen schrecklichen inneren Kampf. Als Mönch bezeichnete ich dann seine Stirn mit dem Kreuzzeichen und sprach Exorzismen, um die Mächte des Bösen aus ihm zu scheuchen. Und jedes Mal beruhigte er sich. Dann verschied er in großem Frieden.

Ich hatte meinen Vater lieb, doch vergoss ich keine Träne. Ich war voller Freude, denn ich wusste ihn nun in der definitiven Gegenwart jenes Wesens, der seinem ganzen Leben Sinn gegeben hatte.

Ebenso war ich allein am Sterbebett meiner Mama. Sie hatte eine völlig andere Persönlichkeit als mein Vater. Das war eine starke Frau voller Energie, die ohne Schwierigkeit acht Kinder großgezogen hatte. Doch als es ans Sterben ging, wurde sie wie ein kleines Kind. So hatte ich sie nie zuvor gesehen. Zusammen rezitierten wir das Nachtgebet, das wir in unserer Familie immer gesprochen hatten. Dann schloss sie langsam ihre Augen und entschlief für immer. Das war eine solche Süße, dass ich meinte, unsere Rollen hätten sich vertauscht: Ich wäre nun wie eine Mama am Sterbebett meines Kindes.

Auch beim Sterben einer Person, die eine große Rolle in meinem Leben gespielt hatte, war ich wiederum allein. Es war Mademoiselle Coutaz, meine Sekretärin in Emmaus. Sie starb mit 83 Jahren, nachdem sie mich 39 Jahre lang ertragen hatte. Ohne sie wäre die Emmaus-Bewegung nie zu dem geworden, was sie heute ist.
Die alten Gefährten, die sie sehr gut kannten, pflegten zu sagen: „Abbé Pierre hatte nie einen Sou in der Kasse, weil er ihn sogleich ausgab, sobald er ihn erhielt. Mademoiselle Coutaz jedoch wusste hauszuhalten, die Gelder zu verwalten und sie gewissenhaft auszugeben.“ Auf ihr Grab haben sie geschrieben: „Mitgründerin von Emmaus“. Das ist die Wahrheit.

Père de Lubac hatte sie mir empfohlen, und sie war wirklich ein Geschenk der göttlichen Vorsehung. Sie war dreizehn Jahre älter als ich, und man kann sich schwerlich eine Frau vorstellen, die sich weniger zu einer Versuchung mach­te wie sie. Glücklicherweise, denn wenn ich eine attraktive zwan­zig­jährige Sekretärin gehabt hätte, wäre die mir sicher eine wirkliche Qual für meine 39-jährige Zusammenarbeit geworden.
Sie starb also in der Wohnung in Charenton, die ihr zugleich als Büro gedient hatte. Was mir damals am meisten Eindruck machte, war das schreckliche Zucken vor Schmerz auf ihrem Gesicht während der beiden letzten Tages ihres Lebens, wobei sie zwei Stunden später voller Frieden strahlte.

Bei jeder dieser drei meiner intimsten Sterbeerfahrungen hatte ich nichts als das Gefühl großer Freude.

Selber habe ich mich auch mehrere Male an der Schwelle des Todes befunden, und wäh­rend ich ihn mir mit acht oder neun Jahren so ersehnt hatte, wollten sich die Pforten zu ihm doch noch nie öffnen.

Das erste Mal, als ich zu sterben meinte, war ich als junger Pfadfinder in einem Lager am See Annecy. Eines Morgens, als ich aus dem Zelt sprang, bohrte sich ein zugespitztes Schilfrohr in meinen Fuß. Man pflegte die Wunde zunächst mit den Mitteln, die man mitgebracht hatte, doch sie infizierte sich, und nach wenigen Stunden hatte ich vierzig Grad Fieber. Man brachte mich sofort ins Krankenhaus, und weil das Fieber immer noch anstieg, bereitete mich der Pfadfinderkaplan auf das Sterben vor. Ich war zufrieden und dachte: Endlich kommen meine großen Ferien! Doch schließlich erholte ich mich, und der Weg ging also weiter.

Autor:

Kirche bunt Redaktion aus Niederösterreich | Kirche bunt

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