Memoiren eines unbeugsamen Christen, Folge 18
Abbé Pierre

Wie im Fall eines bewaffneten Konflikts muss doch heute die ganze Bevölkerung mobilisiert werden, um unerbittlich Krieg gegen Arbeitslosigkeit, Rassismus und jede Art neuer Armut zu führen. Die Politiker müssen den Mut zur Erklärung finden: „Das ist ein Ausnahmezustand wie im Kriegsfall. Da tun Generalmobilmachung und Bereitschaft zu jedem Opfer Not!“ Und die Bürger müssen den Mut aufbringen, dergleichen mutige Männer und Frauen in die entscheidenden Ämter zu wählen.

Es gibt schmutzige Kriege, die eine aggressive Nation einer andern erklärt. Es gibt aber auch saubere und schöne Kriege, die man der wachsenden Ungerechtigkeit in der Verteilung der globalen Güter, dem Rassismus und der Verelendung gegenüber erklären muss, um unsere Gesellschaft vor drohendem Schiffbruch zu bewahren. Ein solcher Krieg könnte leicht die heutige Jugend stimulieren, die sonst keinen begeisterungswürdigen Horizont mehr sieht.

Die Gesetzgebung ist für normale Zeiten bestimmt, und darum ist bei Katastrophen ein rechtlicher Ausnahmezustand auszurufen. Dann herrscht das „Gesetz aller Gesetze“, das darin besteht, alles Menschenleben zu retten und die Würde eines jeden zu achten. Wäh­rend des Zweiten Weltkriegs sah ich mich so gezwungen, die rassenfeindliche Gesetzgebung der Vichy-Regierung zu missachten, um in der nationalen Widerstandsbewegung jüdisches Leben zu retten, das mein Staat den Nazis auslieferte. Im Namen des Gesetzes aller Gesetze, das sagt „du sollst lieben“, habe ich nicht eine Sekunde gezögert, das Gesetz, das mir befahl, mit den Deutschen bei der schändlichen Vernichtung des jüdischen Volkes zusammenzuarbeiten, zu missachten.
Im sauberen Krieg für menschenwürdige Behausung, den ich zusammen mit den Emmaus-Gemeinschaften nun schon seit mehr als vierzig Jahren führe, hatten wir mehrmals ebenso geltendes Recht zu verletzen im Namen dieses Gesetzes aller Gesetze. Mehrmals hatte ich die Zivilverwaltung anzulügen oder sie entgegen alle Gesetzlichkeit vor vollendete Tatsachen zu stellen, um Familien in außerordentlichen Notfällen unterzubringen.

Begegnung am frühen Morgen

Oft fragt man mich: „Wie haben Sie es in Ihrem ganzen Leben, das doch in vieler Hinsicht ein recht raues war, nur ausgehalten?“ Tatsächlich war mir diese Energie für die Ärmsten, für meine weltweiten Aktionen in all diesen aufreibenden Kämpfen nur möglich, weil ich mir in meinen Klosterjahren ein Gebetsleben erworben hatte. Während mehrerer Stunden untertags und in der Mitte jeder Nacht ließ ich mich damals in die Kontemplation dieses unsagbaren Mysteriums des Gottes, der Liebe ist, eintauchen. Diese Anbetung, dieser „erträgliche Schwindelanfall“ oder „Ekstase“, wie ich das gerne nenne, wurde meine grundlegende Übung, ohne dass ich mir ihrer recht bewusst werde.

Selbst mitten in meinem Tun lebte alles aus dem Grund dieses Gebetszustands, aus diesem Herz zu Herz mit dem Ewigen.
Man kann gewiss Gebete rezitieren wie das Vaterunser oder das Ave Maria, und ich tue dies auch (ich kann nie einschlafen, ohne die Muttergottes mit einigen Ave zu grüßen). Beten kann aus solchen Akten bestehen. Doch in einem viel tieferen Sinn ist es ein Zustand. Sobald wir von einem lebendigen Glauben an Gott, der die Liebe ist, angerührt sind, leben wir ganz natürlich, als ob wir in Seiner Liebe badeten, obgleich wir gebrechliche Sünder bleiben. Jede unserer Tätigkeiten, selbst die banalste und alltäglichste, vollzieht sich in dieser geheimnisvollen liebenden Intimität mit Gott. – Das ist ein Zustand, den jeder Verliebte kennt: Was immer man tut: Der, den wir lieben, wohnt in uns. Beten ist nichts anderes als dieser bestimmte Zustand, in den man eintaucht, sobald unser Glaube völlig lebendig wird.

Natürlich sind wir uns dieses Zustands nicht ständig bewusst. Bloß plötzlich, zu gewissen Momenten, realisieren wir, dass unser Herz ständig vom Gedanken an den Ewigen bewohnt bleibt … ein wenig wie ein Familienvater, der inmitten all seiner Beschäftigungen einen Blick auf das Foto seiner Gattin mit den Kindern auf seinem Schreibtisch wirft. Er weiß, dass sein Herz bei den Seinen ist.

Oft erhalte ich Briefe mit Bitten um mein Gebet. Ich vermag nie zu antworten: „Ja, ich bete für Sie.“ Tatsächlich kann ich doch nicht behaupten: „Seien Sie versichert, dass ich an Sie denke in meiner täglichen Aufopferung meiner Beschäftigungen in Gegenwart der Ewigen Liebe.“ Doch in der Tiefe meines Herzens trage ich alle Menschen, die der Herr mir auf meinen Weg schickt. Wie könnte man denn sein Herz von allem Elend und Leiden in der Welt abschotten? Wie wollte man aufhören, in die innerste Intimität seiner selbst alle Bitten um Frieden und gegenseitiges Einverständnis unserer Menschenbrüder einzubeziehen? Wie könn­te man nicht ständig von all ihren Bitten und Anliegen durchdrungen sein? Dann macht es keinen Sinn, Gott ständig explizit darum zu bemühen: „Tu dies, mach das, vergiss ja jenen nicht“, usw.

„Plappert nicht wie die Heidenvölker“, sagt uns Jesus, „denn euer Vater weiß ja schon längst, was ihr alles nötig habt.“ Das ist kein Widerspruch zu seinem anderen Wort: „Betet ohne Unterlass. Bittet, und es wird euch gegeben, klopft an, und es wird euch aufgetan.“ Oft spreche ich auch Bitten aus.

Autor:

Kirche bunt Redaktion aus Niederösterreich | Kirche bunt

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