Memoiren eines unbeugsamen Christen, Folge 11
Abbé Pierre

Gott sei Dank sind doch viele, die behaupten, mit Religion nichts zu tun haben zu wollen, in Wirklichkeit „Söhne Gottes“, weil sie Machtlose vor den Machthabern in Schutz nehmen. Selbst wenn sie weder mit Pfarrern noch mit Kirche noch mit dem Credo etwas anzufangen wissen, aber ihr Leben für die Verteidigung der Würde und der Rechte der gesellschaftlich Schwächsten einsetzen, dann sind gerade sie es, die das Himmelreich auf Erden bauen. Das ist das Evangelium, und darin besteht alle christliche Ethik.

Oft liegt es leider an der Unfähigkeit der Kirchenvertreter und derer, die sich „Gläubige“ nennen, dass sie den Gott der Liebe weder plausibel noch glaubwürdig zu machen verstehen. Liegt der Grund dafür nicht oft darin, dass wir über unserem Eifer für die wahre Lehre und für die exakte Glaubensaussage vergessen, das erste aller Gebote, das Wesen der Christusbotschaft, zu leben und zu praktizieren: „Liebt einander, wie ich es getan habe“? Wenn wir unseren Jesusglauben nicht in Liebe leben, ist er bloß ein erloschener Leuchtturm. Das ist doch das Herzstück der Botschaft Jesu Christi, das Paulus in seinem Hohelied besingt. (…)

Drei Gewissheiten

Das Wesentliche meines Glaubenslebens beruht, trotz der Entsetzlichkeiten, die uns allen so zu schaffen machen, auf drei Gewissheiten.

Das erste Fundament meines Gottesglaubens ist die Gewissheit, dass der Ewige die Liebe selbst ist. Das zweite die Gewissheit, dass Er mich liebt. Das dritte die Überzeugung, dass die Freiheit dem Menschen zu keinem andern Zweck geschenkt ist, als uns zu befähigen, auf die Liebe Gottes zu uns mit unserer eigenen Gegenliebe zu antworten.

Ich erinnere mich an eine Anekdote: Vor etlichen Jahren hatten meine Freunde beschlossen, über unsere Winterhilfsaktion 1954 einen Film zu drehen. Der Produzent, der das Erbe seines eben verstorbenen Vaters übernommen hatte, sagte mir: „Jetzt kommt das Filmfestival von Cannes. Wir wollen diesen Film für das Festival produzieren, doch fehlt uns das Geld dazu. Sie würden uns einen großen Dienst leisten, wenn Sie persönlich zum Festival kämen. Aus aller Welt kommen die Produzenten jeweils nach Cannes, um neue Ideen zu konzipieren. Wenn der Fernsehmoderator Yves Moroussi Sie zwei Minuten lang im TV-Journal interviewen dürfte, wäre Abbé Pierre mit einem Schlag allen Filmproduzenten bekannt, und wir hätten nur noch die Qual der Wahl!“
Natürlich ging ich nach Cannes. Als ich dort eintraf, war die Nachrichten-Kamera des TV-Programms „Vingt heures“ schon auf einem Schiff montiert. Wie ich aufs Schiff kletterte, flüstert mir ein Freund zu: „Sie haben Pech. Drei nationale Filmstars sind schon drin, und die werden wohl zum gleichen Interview geladen. Einer davon ist ein bekannter Pfaffenfresser. Da kann man jetzt schon sehen, dass es für Sie nicht sehr lustig wird!“

Ich steige hinauf, und Moderator Moroussi stellt uns dem Fernsehpublikum vor. Die drei Stars debattieren über den Film Sous le Soleil du Satan/Unter der Sonne Satans. Maurice Pialat, das „Großmaul Pfaffenfresser“, ist dabei. Der Moderator wendet sich schließlich an mich: „Ah, Abbé Pierre, Sie kommen auch zum Filmfestival?“ Ich antwortete mit aller Kraft, wie ich es noch heute empfinde:
„Jawohl, denn wenn man älter wird, hat man das Empfinden einer inneren Stimme, die einem sagt: ‚Bevor du für immer gehst, sag noch, was du weißt!‘ Was ich weiß, ist, dass unser Leben unserer Freiheit anvertraut ist; wenn du willst als eine hiesige Lehrzeit, um lieben zu lernen, für die Begegnung im Jenseits mit dem Ewigen, der die Liebe ist …“ Völliges Schweigen. Da brüllt plötzlich der schreckliche Pialat: „Warum hat man mir das nie gesagt, als ich noch ein Kind war?“ Das war ein großartiges Ereignis!

Man lehrt uns eine Unmenge Glaubenssätze. Vielleicht helfen sie uns. Aber gezwungen, sie auswendig zu lernen, vergisst man sie ebenso rasch. Umso eher, als wir allzu oft die Dinge gar nicht verstehen, die uns auf solche Weise eingetrichtert werden. Am Tag nach der Sendung, als Pialat seinen Schrei ausgestoßen hatte, plauderte er mit Journalisten über seine katholische Erziehung. Er sagte, man hätte über Teufel und Hölle gesprochen und ihm dabei eingeschärft: „Sei brav, sonst straft dich der liebe Gott!“ Er behauptete, noch nie etwas von einem „Gott, der Liebe ist und der uns Freiheit schenkt“ gehört zu haben. Darum sein Schrei: „Warum hat man mich dies nie gelehrt?“

Und doch ist dies ja das Grundgesetz des christlichen Glaubens, wenigstens soviel ich von der Lektüre der Frohbotschaft gelernt habe.
„Gott ist Liebe“ ist doch das Leitmotiv des Neuen Testaments. Er ist unwissbar, und man weiß nichts von Ihm, außer dass Er Liebe ist und sich an uns verschenkt. Doch jedes Mal füge ich hinzu: „Gott ist trotzdem Liebe!“ Nämlich trotz aller Entsetzlichkeiten, trotz der ungeheuren Quälereien von so vielen Männern und Frauen und Kindern, trotz aller monströsen Kriege und schrecklichen Epidemien: Ja, ich glaube, dass Er trotzdem nichts als Liebe ist.

Meine zweite Gewissheit ist, dass Er uns trotzdem liebt. Das Evangelium hört nicht auf, uns daran zu erinnern: „Denn Gott hat die Menschenwelt so sehr geliebt, dass Er uns seinen Sohn gesandt hat, damit unsere Welt durch Ihn ihr Heil finde“ (Joh 3,16). Sein ganzes öffentliches Wirken lang hat Jesus jedermann geliebt, dem er begegnete: Petrus, Johannes, Natanael, die Zwölf, die ortsbekannte Sünderin, Maria von Magdala, Zachäus, die Frau in Samaria, den Gelähmten am Teich Betesda, die Witwe in Naim, den römischen Hauptmann, Nikodemus. Selbst Judas hat er geliebt und nennt ihn noch „Freund“ beim Verräterkuss. Fortsetzung folgt

Autor:

Kirche bunt Redaktion aus Niederösterreich | Kirche bunt

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