Trauerseelsorger Johannes Staudacher
Aus der Trauer wächst die Kraft

Der Pfarrer und Trauerseelsorger Johannes Staudacher spricht im SONNTAG-Gespräch über verlorene Normalität, Trauer und die Chance neuen Lebens.
von Georg Haab

Als Trauerseelsorger haben Sie viel mit Trauer und trauernden Menschen zu tun. Was fällt Ihnen in diesen Tagen auf?
Staudacher: Die Einschränkungen dieser Monate bringen Verluste mit sich. Viele Menschen haben Lebens-Möglichkeiten verloren, die ihnen lieb und wichtig sind. Das ist – im weiteren Sinn – eine Situation der Trauer. Es wurde in dieser Zeit beobachtet, dass Suchtverhalten zugenommen hat, von Alkohol- bis Spielsucht. Das heißt, dass zumindest ein Teil der Gesellschaft sich schwer tut, mit dieser befremdenden Wirklichkeit zu leben und sich ihr zu stellen. Anstatt das auszuhalten, suchen Menschen Umwege. Da wird eine Chance versäumt. Denn Zeiten von Traurigkeit und Trauer können auch Reifungszeiten sein. Worauf kommt es an? Etwas Schmerzliches anzunehmen, durchzuleiden, und dann innere und äußere Wege zu finden, damit auf positive Weise umzugehen. Für mich ist das große Aufbegehren gegen die eine und andere Einschränkung auch ein Stück Realitäts- und Trauerverweigerung.

Oder wir vertrösten uns, dass eh bald wieder alles „normal“ ist.
Staudacher: Wenn das Kind aus der Schule kommt und sagt, was heuer alles nicht ist, ist es wichtig, das zu hören und ihm Raum zu geben. Mit ihm zu trauern. Der, der mich versteht, hilft mir, positive Kräfte zu entwickeln. So wird Traurigkeit durchlebt und aufgelöst. Man sagt ja: Wenn ich geweint habe, ist mir nachher besser. Fachlich gesprochen: Anerkannte Trauer ist eine Trauer, aus der ich gestärkt hervorgehen kann. Das Miteinander stärkt den Menschen dazu, einen Neubeginn zu machen. Es wächst neuer Mut zum Leben.

Verlust und Trauer anzunehmen, ist sozusagen der Schlüssel für einen Neubeginn?
Staudacher: Neulich wurde in der „Furche“ ein Gedanke von Viktor Frankl in Erinnerung gerufen: „Die Bedeutung, die die Krise eines Tages haben soll, müssen wir ihr jetzt geben.“ Das heißt: In unserem Umgang damit liegt die einzige echte Chance, dass Positives entsteht. Einfach zu warten, dass sich die Dinge irgendwie ergeben, reicht nicht. Deshalb ist es gut, Traurigkeit zuzulassen, die Verluste zu spüren und zugleich zu tragen – und das Leben unter den veränderten Umständen aktiv zu gestalten. Das ist ein Thema beim Abschied von lieben Menschen, aber auch bei anderen Verlusten, wie z. B. beim Lebensraum Schöpfung. Ich muss das Schmerzliche an mich heranlassen, dann entfaltet sich Kultur, auch im Sinne von Lebens- und Weltgestaltung. Nur abzuwarten, dass etwas vorübergeht, verändert mich und die Welt nicht.

Wie kommt es aber, dass die eine die Kraft dazu hat, der andere nicht?
Staudacher: Da steht unter anderem eine Art Lebenskunst dahinter. Ich möchte drei Dinge nennen. Trauernde brauchen neben dem, was sie als Verlust erfahren, möglichst viel, was sie trägt und was gleich bleibt und leben hilft. Die Kunst ist, bei dem, das ich verloren habe, das Andere nicht zu übersehen, das da ist und möglich ist. Wie es viele auch im Lockdown empfunden haben: Manches war wohltuend, und sogar manches Kostbare war da, mehr als zuvor. Wenn ich einen lieben Menschen verliere, ist dieser Schritt natürlich noch einmal anders.
Aber das ist eine erste hilfreiche Haltung: Zu trauern und zugleich offen für anderes zu sein, was mir jetzt gut tut, ob das der Gesang eines Vogels ist, der Schein der Sonne, ob es Freunde sind oder mein Beruf.
Die Offenheit für die Geschenke des Lebens ist eines, ein zweites die Dankbarkeit. Papst Franziskus hat in der Enzyklika über die „Heiligkeit in der Welt von heute“ – ein fast übersehenes Schreiben aus dem Jahr 2018 – über den inneren Frieden gesprochen, der im Gefestigt-Sein in Gott wurzelt. Und dann über die Dankbarkeit gesagt: Ich bin auch verpflichtet, die Dinge wahrzunehmen, die mir geschenkt sind, unter allen Umständen des Lebens. Und wenn ich sie dankbar wahrnehme, nährt sich davon auch die Freude.
Ein drittes zu solcher Lebenskunst wäre das Beten: So, wie der Trauernde das, was ihn bewegt, immer wieder durchdenkt, durchlebt, durchspricht, ist es auch wichtig, die jetzige Situation zu durchbeten, damit wir wieder Klarheit finden. Dann wissen wir, was weh tut und auch, was trotzdem da ist, und können damit besser umgehen.

Dieses Nachdenken schafft Ordnung, es verwurzelt. Es bringt mich aber auch in Spannung zur erlebten Realität, in der sich, gerade bezüglich Corona-Maßnahmen, Menschen nicht mehr zuhören und einander nicht mehr verstehen.
Staudacher: Diese Entwicklung haben wir schon länger. Wissenschafter sprechen von der „aufgeregten Gesellschaft“, die nicht mehr fähig ist, über ein Thema zu sprechen, sondern sich nur noch aufregt über das, was der andere gesagt hat. Das Voneinander- und Miteinander-Lernen fällt so aus. Vernünftiges Verhalten sieht anders aus.
Etwas zum Abschied-Nehmen: Vor Jahren haben wir eine Sonnenfinsternis erlebt. Ich hatte mir einen Platz in der Natur gesucht, stand dort und merkte, wie die Natur sich veränderte. Die Vögel, zuerst unruhig, dann still, auch die Menschen. Die Farben veränderten sich. Die Wiesen, die Äcker, die Horizonte: Alles war nicht mehr wie vorher. Es dauert keine zwei Minuten. Aber nach einer Minute fängst du an, Trauer zu haben und dich zu fragen, ob denn die Welt nicht mehr kommt; nämlich die, die du seit Jahren um dich hast. Dann kamen die Sonne und die Farben wieder, die Normalität, wie eine Erlösung. Das hilft mir ein wenig verstehen, wie es Menschen geht, wenn die Normalität, die für sie so wichtig ist, nicht mehr da ist. Eine Welt lieben, die anders ist, als ich sie gewohnt bin, ist ein großer Schritt. In der Einzeltrauer ist das völlig klar, es gilt aber auch hier: Wann kann ich eine veränderte Welt lieben? Erst, wenn ich von der anderen Abschied genommen habe. Das geschieht dann, wenn ich die Verluste spüre und beginne, sie anzunehmen.

Es klingt plausibel, dass dieser Schritt momentan vielen Menschen zu schaffen macht.
Staudacher: Wenn wir mitfühlen mit Kindern und Menschen im Pflegeheim, werden wir auch kreativ agieren. Wenn wir mitfühlen mit Wirtschaft und Kultur, werden wir Schritte der Politik mittragen. Trauer macht kreativ, wenn sie angenommen wird. In unserem Dekanat haben wir als Priester in diesem Sinn gesagt: Wir sind den Menschen schuldig, dass wir die Möglichkeiten, die uns gegeben sind, nützen. Wie machen wir heuer Sternsingen – nicht ob, sondern wie? Wie machen wir Krippenfeiern – nicht ob, sondern wie?
Ich trauere, dass manches nicht möglich ist, aber es ist mir wichtig, und deswegen suche ich einen verantwortbaren anderen Weg. Auch das Teilnehmen an der Trauer anderer macht innovativ und kreativ. Eine Kultur, die nicht mehr durch die Trauer ginge und durch den Schmerz, wäre auf lange Sicht unfruchtbar. Schauen Sie in die Literatur, in die Musik: So ist vieles entstanden. Angesichts von Schwierigkeiten stark werden: Das scheint mir etwas vom Besten im Menschen.
Das erinnert mich auch an die Diskussion zum Thema Sterbehilfe in diesen Tagen, ebenso wie die Realität, die wir rund um Abtreibung haben: Wir wollen Probleme dadurch lösen, dass wir Leben beenden. Statt den Weg zu suchen, mit allen Kräften dem schwer gewordenen Leben zu helfen.

Autor:

Gerald Heschl aus Kärnten | Sonntag

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