Markus Schlagnitweit, neuer Direktor der ksoe, im Gespräch über „Abgehängte“ in der Gesellschaft, gerechte Kostenverteilung und die Chance dieser Krisen
Wir sitzen alle in einem Boot

Foto: foto: ksoe/johann wagner

Die Covid-Krise ist wie eine Lupe: Welche Verwerfungen in der Gesellschaft vergrößert die Pandemie Ihrer Wahrnehmung nach?
Schlagnitweit: Empirische Studien zeigen: Menschen, die es vor der Krise schon schwer hatten bezüglich materieller Sicherheit, Zugang zu Bildung usw., haben es jetzt zusätzlich schwer. Bei prekär lebenden Menschen kommen ganz massiv Existenzängste dazu. Das Geld aus der Kurzarbeit genügt nicht mehr für die Auslagen. Wie lange gibt es meinen Job noch, bzw. finde ich wieder einen? Auch Homeschooling und Homeoffice gehen auf 40 Quadratmetern ohne Kinderzimmer nicht gut. – Aber auch das Sozialverhalten der Menschen wird in der Krise stärker sichtbar, Haltungen wie solidarische Gesinnung und Gemeinwohlorientierung genauso wie Selbstbezogenheit: Der Ruf nach Freiheit bei den Corona-Leugnern verwechselt Freiheit zumeist mit schnödem Egoismus.

Corona-Leugner, Klimawandelleugner ... sind das nicht oft die gleichen Menschen?
Schlagnitweit: Es sind in der Regel Menschen, die stark in einer Blase leben und das für wahr halten, was in dieser Blase für wahr gehalten wird, der Horizont darüber hinaus wird ausgeklammert.

Zwischen den verschiedenen Ansichten ist es kaum noch möglich, sich auszutauschen.
Schlagnitweit: Das ist ein besorgniserregender Trend in unseren Gesellschaften. Wenn in den USA 30 Prozent der Bevölkerung Joe Biden nicht als legitim gewählten Präsidenten anerkennen, sondern immer noch von Wahlbetrug sprechen, für den es bis jetzt nicht den geringsten Beweis gibt: Da werden Parallelwelten aufgebaut. Diesen Trend, in Informationsblasen zu leben, gab es schon vor Corona, er hat sich jetzt möglicherweise verstärkt.

Ich kann das feststellen, mich darüber empören – aber kann ich auch etwas dafür tun, diese Gräben zu überbrücken?
Schlagnitweit: Ein Buchtitel von Friedrich Heer, einem bedeutenden katholischen Intellektuellen der Nachkriegszeit, lautet: Gespräch der Feinde. Wenn ich nur das Gespräch mit denen suche, die sowieso meiner Meinung sind, ist damit nicht viel gewonnen. Es braucht das bewusste Zugehen auf Menschen, die anderer Meinung sind. Das kann oft nur in einem intimen Rahmen geschehen. Bei einem ehrlich-redlichen Austausch von Argumenten kann ich die Position des Anderen zu verstehen versuchen, ohne sie mir gleich zu eigen zu machen. Ich kann dann verstehen, welche Ängste er hat, welche Sorgen, kann auf sie eingehen und sie anerkennen. Wenn ich das sofort auf die Bühne der Öffentlichkeit hebe, kann das kaum gelingen. Da zielen alle nur auf Aufmerksamkeitsquoten.

Man sagt, dass in den sogenannten Blasen viele „Abgehängte“ zusammenkommen. Die päpstliche Sozialenzyklika „Rerum novarum“ suchte vor 130 Jahren Antworten auf die Probleme der damals „Abgehängten“, der Fa-briksarbeiter. Wer sind heute die „Abgehängten“, was sind deren Fragen?
Schlagnitweit: Damals war die Gesellschaft sozial strukturierter als heute, die Klassenunterschiede waren klarer. Die Soziale Frage war v. a. die gesellschaftliche Integration der Industriearbeiter. Diese Problematik stellt sich heute viel komplexer dar: Die „Abgehängten“, das sind heute nicht unbedingt Industriearbeiter; ein Facharbeiter kann heute ein recht sicheres Auskommen haben. Dafür gibt es aber z. B. ein akademisches Prekariat, also Menschen, die Bildung haben, aber keine Beschäftigung. Oder wir haben Probleme mit der Integration von Menschen mit migrantischem Hintergrund oder von Menschen, die einen schlechten oder keinen Zugang zu digitaler Information haben.
Die Herausforderung sehe ich nicht so sehr, inwieweit Corona unsere Demokratie durch eingeschränkte Freiheitsrechte gefährdet. Die viel größere Herausforderung sind Zusammenhalt, Gemeinwohlorientierung und Solidarität, also das Einsehen, dass wir alle in einem Boot leben – in Österreich, aber auch weltweit. Und es ist ein Problem, dass die Qualität und Sicherheit der Plätze in dem einen Boot sehr ungleich verteilt sind.

Diese Frage stellt sich auch, wenn es um finanzielle Bewältigung der Pandemie geht.
Schlagnitweit: Es kann nicht sein, dass dafür einfach alle in gleicher Weise aufkommen müssen, indem in den nächsten Jahren etwa im Bildungs-, Sozial- und Kulturbereich gekürzt wird. Das halte ich für ungerecht. Viele leiden jetzt unter Corona, aber es gibt auch welche, die sogar Gewinne machen. Diese müssen stärker zur Kasse gebeten werden. Amazon z. B. hat seinen Umsatz 2020 um Milliarden gesteigert. Ich unterstütze den Vorschlag von attac, zum Ausgleich der Pandemie-Kosten Vermögen von über fünf Millionen Euro mit einer Einmalzahlung zu belasten. Damit gibt es sogar historische Erfahrungen: Im Deutschland der Nachkriegszeit gab es auch so eine Einmalzahlung für Reiche, und man weiß heute aus der Forschung, dass das mit ein wesentlicher Grund für das deutsche Wirtschaftswunder war. So etwas muss jetzt auch diskutiert werden.

„Laudato si“ wurde zuerst als Umweltenzyklika verstanden, tatsächlich spricht der Papst an, dass Wirtschaft, Sozialgefüge und Ökosystem zusammengehören. Was gibt das Schreiben für die jetzige Situation her?
Schlagnitweit: Das größte Verdienst von „Laudato si“ ist, daran zu erinnern, dass der Nachhaltigkeitsbegriff kein rein ökologischer ist. Eine gesunde Wirtschaft braucht eine stabile Gesellschaft, in der niemand von der sozialen Teilhabe abgehängt wird. Ebenso braucht eine funktionierende Gesellschaft ein intaktes Ökosystem. Wir dürfen nicht wegen der Pandemie die Klimapolitik aussetzen. Wirtschaft gegen Umweltschutz oder gegen Sozialpolitik auszuspielen, ist ein völlig veraltetes und ungeeignetes Denken. Es gibt genügend Studien, die belegen, dass jene Staaten in Europa, die ein gutes Sozialsystem haben, auch die wirtschaftlich erfolgreicheren Staaten sind. Dass unser ökologischer Lebensraum ein Ablaufdatum hat, wenn wir so weitermachen wie bisher, haben wir noch zu wenig bedacht.

Was liegt Ihnen noch am Herzen?
Schlagnitweit: Im ersten Lockdown haben viele gesagt, wir müssten bald wieder zur Normalität zurückkehren. Im Zusammenhang mit Ostern ist mir der Gedanke gekommen und sehr teuer geworden: Es gibt nichts Unösterlicheres, als sich in die frühere Normalität zurückzusehnen. Auch Ostern war ein Durchgang durch eine fundamentale Krise – Karfreitag, Karsamstag. Und es ist nach der Auferstehung nicht einfach so weitergegangen wie vorher. Jesus ist den Jüngern nicht mehr auf die gleiche Weise begegnet. Auferstehung bedeutet nicht die Rückkehr in den früheren Zustand, sondern eine neue Form von Leben.
Die Coronakrise ist sehr massiv, die Klimakrise eher schleichend: Beide stürzen viele Menschen in eine Existenzbedrohung. Nützen wir die Krisen, um vieles neu aufzusetzen, dann können wir hinterher auch das Positive sehen, zu dem sie uns verholfen haben! Darauf müssen wir viel stärker drängen und uns selbst davon inspirieren lassen: Wo inmitten dieser Krise begegnet uns Gott?

Zur Person: Dr. Markus Schlagnitweit, 1962 geboren in Linz, studierte 1982-1988 Theologie in Linz und Rom und 1990-1995 Sozialwissenschaften in Rom, 1989 Priesterweihe. Er war Geistl. Assistent der Kath. Hochschuljugend Wien, Hochschulseelsorger in Linz, 2005-2009 Direktor, 2010-2013 Mitarbeiter der Katholischen Sozialakademie Österreichs (ksoe), danach AkademikerInnen- und KünstlerInnenseelsorger der Diözese Linz und ist seit Ende 2020 wieder Direktor der ksoe.

Autor:

Sonntag Redaktion aus Kärnten | Sonntag

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