Literaturhaus feiert 25 Jahre
Im Kopf beweglich bleiben

Anna Rottensteiner leitet seit 2003 das Innsbrucker Literaturhaus.  | Foto: Kaltenhauser
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Seit 25 Jahren bietet das Literaturhaus am Inn allen einen Platz, die für Literatur brennen und sich den kleinen wie großen Fragen der Zeit stellen. Ein Gespräch mit Leiterin Anna Rottensteiner über die Bedeutung von Empathie und Konzentration, Beweglichkeit im Kopf und darüber, was Literatur und Mystik gemeinsam haben.

Das Literaturhaus am Inn feiert heuer sein 25. Jubiläum – unter dem Titel „Literatur bewegt“. Wie bewegt Literatur? Welche Rolle spielt das Literaturhaus dabei?
Anna Rottensteiner: Literatur bewegt in vielerlei Hinsicht. Sie treibt uns um, indem sie uns an ferne Orte und in längst vergangene – oder zukünftige – Zeiten „beamt“. In einen Roman vertieft, kann ich ein anderer Mensch sein. Beim Lesen und beim Schreiben nimmt man die Perspektive eines anderen Menschen ein, taucht in dessen Erlebniswelten ein. Auf diese Weise bewegt Literatur Menschen, Abstand zu ihren eingefrorenen Vorstellungen und Meinungen zu gewinnen und sich für neue Perspektiven zu öffnen. Im Kopf beweglich zu bleiben, ist heute wichtiger denn je! So schnell wird alles festbetoniert, als gäbe es nur Pro und Contra, nichts dazwischen. Mit unserem Programm im Literaturhaus wollen wir einen Beitrag dazu leisten, Verständnis füreinander, für andere Positionen aufzubringen.

In ihrer Jubiläumsansprache betont Barbara Hundegger, wie wichtig es ist, sich einfach mal „hinzusetzen und mit etwas zu befassen.“ Warum?
Rottensteiner:
Unsere Zeit wird immer unruhiger, die Menschen immer nervöser. Die Pandemie, der Krieg, die fraglichen Gaslieferungen im Winter... wir sind verunsichert. In all dem gibt ein Buch die Möglichkeit, sich in eine andere Welt hineinzuversetzen, sich zu sammeln, auf etwas zu fokussieren. Es ist heute so leicht, sich zu verlieren. Mit einem Buch kann ich die Welt um mich herum vergessen und dabei die Beweglichkeit meines Geistes erhalten. Das tut einfach gut in dieser wahnsinnig nervösen Zeit.

Wie sehen Sie die gesellschaftliche Rolle von Literatur in den derzeitigen Konflikten?
Rottensteiner:
Literatur hat eine wichtige gesellschaftliche und politische Verantwortung, die sie auch wahrnimmt! Autor/innen, die in Diktaturen oder im Krieg leben und darüber schreiben, müssen fliehen oder werden verhaftet. Das erleben wir gerade wieder ganz eindrücklich – in der Ukraine, in Belarus, in Russland. Gerade da haben wir in der freien westlichen Welt die Verantwortung, genau hinzuschauen, Autor/innen einzuladen, sie und ihre Themen in den Fokus der Öffentlichkeit zu holen.

Hat Literatur auch einen spirituellen Aspekt?
Rottensteiner:
Kunst muss immer frei sein. Aber ich sehe einen spirituellen Aspekt in der Sehnsucht, sich künstlerisch auszudrücken. Das ist etwas Ur-Menschliches, woraus sich unterschiedliche Facetten von Selbstausdruck, religiöser oder poetischer Art entwickeln. Literatur ist dabei nicht nur etwas Individuelles, sondern immer auch Auseinandersetzung mit der Gesellschaft.

Welche Kraft schöpfen Sie persönlich aus der Literatur? Was gibt sie Ihnen?
Rottensteiner:
Literatur gibt mir das Gefühl, in der Mitte der Welt zu sein – und gleichzeitig ganz für mich allein. Das ist eine Pendelbewegung. Man könnte das mit der Mystik vergleichen – da ist man auch ganz in sich und gleichzeitig ganz weg von sich. Ich bin nicht mehr wichtig, wenn ich etwas lese. Und trotzdem ganz bei mir. Das empfinde ich als sehr angenehm. Ich kann meine eigenen Probleme ein Stück weit vergessen, sie relativieren sich. Und gleichzeitig bin ich mitten in der Welt, weil ich mich intensiv mit etwas auseinandersetze, z.B. mit grundmenschlichen Konflikten, die etwas in mir zum Schwingen bringen. Literatur verhandelt auf einer ganz tiefen Ebene die Ur-Probleme des Menschseins – und da trifft sie sich auch mit der Religion.

Weitere Informationen: 
„25 Jahre Literatur bewegt“: Zum Jubiläum hat das Literaturhaus am Inn eine Art literarische Schnitzeljagd zusammengestellt. 10 Innsbrucker Autor/innen stellen Orte in Innsbruck vor, die für sie bedeutsam sind – vom Milchautomat über die Bushaltestelle bis hin zum Waldhüttl. Die Texte können mittels QR-Code am Smartphone angehört werden. Alle Infos und einen Lageplan gibt es auf www.literaturhaus-am-inn.at

Zur Person: Dr. Anna Rottensteiner ist seit 2003 Leiterin des Literaturhauses am Inn. Sie stammt aus Bozen, studierte in Innsbruck Germanistik und Slawistik, war Buchhändlerin und Lektorin. Das 25jährige Jubiläum des Hauses ist kurz vor ihrer Pensionierung Anlass zum Rückblick auf viele Jahre gelebter Literaturvermittlung. Stets bei freiem Eintritt bietet das Literaturhaus bekannten und (noch) unbekannteren Autor/innen eine Bühne und allen Interessierten eine Plattform für Austausch und Dialog. Zu den Veranstaltungsformaten zählen z.B. Lesungen, das „Montagsfrühstück“ zu aktuellen Themen oder das Lyrikfestival „W:Orte“.
Kaltenhauser

Autor:

Lydia Kaltenhauser aus Tirol | TIROLER Sonntag

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