Caritas Hungerkampagne
„Die Jungen sehen keine Zukunft“

Marie Ghiya mit einem ihrer Schützlinge in Broumana. Die Sozialarbeiterin sorgt dafür, dass die ärmsten Familien zu essen haben und die Kinder weiter in die Schule kommen. | Foto: RB/Caritas
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  • Marie Ghiya mit einem ihrer Schützlinge in Broumana. Die Sozialarbeiterin sorgt dafür, dass die ärmsten Familien zu essen haben und die Kinder weiter in die Schule kommen.
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Libanon. Ein korruptes politisches System, Wirtschaftskrise und nicht zuletzt Corona lassen den Zedernstaat immer tiefer in die Krise schlittern. Die Caritas-Auslandshilfe unterstützt in ihrem Schwerpunktland unter anderem die Ordensschule der Barmherzigen Schwestern in Broumana. Projektkoordinatorin Marie Ghiya kümmert sich um Kinder aus den ärmsten Familien. Im Rupertusblatt-Interview spricht sie darüber wie Hunger und Unterernährung in der einstigen „Schweiz des Nahen Ostens“ um sich greifen.

RB: Armut, Schulden, Staatsversagen und Corona. Der Libanon kämpft mit seiner größten Krise. Wie ist die aktuelle Situation?
Marie Ghiya: Ich meine, der Libanon ist gerade in seiner größten Krise überhaupt. Selbst während des Bürgerkriegs (Anm.: von 1975 bis 1990) war die wirtschaftliche Lage nicht so schlimm. Den meisten Menschen ging es damals nicht so schlecht wie jetzt. Die Bevölkerung leidet und das in allen Bereichen: Die Arbeitslosigkeit ist in die Höhe geschnellt und gleichzeitig sind die Preise explodiert – die Inflation erreicht fast 90 Prozent. Der Strom fällt immer wieder aus und nun wird auch noch das Benzin knapp. Krankenhäuser können nur noch Notfalloperationen durchführen. Die Apotheken traten bereits in einen zweitägigen Streik, um gegen die Versorgungskrise zu protestieren. Und in dieser extremen Situation hat der Libanon keine wirklich handlungsfähige Regierung, die sich all diesen Probleme stellt und versucht sie zu lösen.

RB: Laut Weltbank sind Lebensmittel in keinem anderen Land des Nahen Ostens so teuer wie im Libanon.
Marie Ghiya: Ja, das stimmt und manche Produkte im Supermarkt sind gar nicht mehr zu bekommen. Dramatisch ist, dass sich die Preise einiger Medikamente vervierfacht haben. Menschen müssen sich entscheiden, ob sie ihr Geld für Nahrungsmittel oder Medizin ausgeben. Bereits die Hälfte der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (Anm.: Der Libanon hat ungefähr 6,9 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner).

RB: Droht dem Libanon eine Hungersnot?
Marie Ghiya: Fest steht, das Thema Hunger ist im Land präsent. Wir haben eine steigende Zahl von Kindern und Erwachsenen, die unterernährt sind. Und ja, wir haben Menschen im Libanon, die hungern. Das trifft Libanesen genauso wie Flüchtlinge und Migranten. (Anm.: Rund 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge haben in den vergangenen Jahren Zuflucht im Libanon gesucht, einem Land, das so groß ist wie Tirol). Oft sparen die Familien auch bei der Qualität des Essens oder sie schränken sich bei der Menge ein und reduzieren die Zahl der Mahlzeiten am Tag.

RB: Wie stark hat die Coronapandemie das Land getroffen?
Marie Ghiya: Wir hatten bis zu 20 Todesfälle am Tag. Nun ist der Anteil der erkannten Personen gesunken. Das hat sicherlich mit den Impfungen zu tun. Wobei es unter den Infizierten wahrscheinlich eine hohe Dunkelziffer gibt, da sich die Leute kaum testen lassen. Sie müssten die PCR-Tests aus der eigenen Tasche zahlen und das können sich viele nicht leisten. Ein anderes Problem ist, dass es in den Spitälern an Arzneimitteln, medizinischem Material und Sauerstoffgeräten mangelt. Erkrankte haben zum Teil auch gar keinen Zugang zu einer Spitalsbehandlung.

RB: Eine Explosion im Hafen hat vor einem Jahr Teile der Hauptstadt in Trümmer gelegt. Wie geht es in Beirut mit dem Wiederaufbau voran? Bekamen die betroffenen Menschen eine Entschädigung?
Marie Ghiya: Hunderttausende Menschen sind von dieser Katastrophe betroffen. Sie haben ihr Zuhause verloren oder wurden verletzt. Von der Regierung kam nur wenig Hilfe. Die ausbezahlte Unterstützung reicht bei weitem nicht, der Bedarf ist weitaus größer. Zahlreiche Häuser sind nicht wieder aufgebaut oder saniert worden. Ich schätze es würde an die fünf Jahre dauern, um in den verwüsteten Vierteln wieder alles aufzubauen. Aber dazu bräuchte es Geld, das nicht da ist.

RB: 2019 und auch 2020 haben der Frust und die Unzufriedenheit mit der Führung des Landes die Menschen auf die Straße getrieben. Gibt es aktuell noch Proteste?
Marie Ghiya: Es gibt manchmal schon noch Proteste, aber das ist nicht vergleichbar mit den vergangenen Jahren. Die Menschen sind einfach erschöpft.

RB: In einem Fernsehbericht sagte ein libanesischer Busfahrer, der zwei Töchter hat: „In diesem Land gibt es keine Zukunft für junge Menschen. Jeder, der das Land verlassen kann, tut es.“ Was bedeutet es für das Land, wenn immer mehr nur noch weg möchten?
Marie Ghiya: Die große Mehrheit will nur noch weg. Junge Leute finden keinen Job, selbst wenn sie sehr gut ausgebildet und qualifiziert sind. Studierende können die Studiengebühren nicht mehr bezahlen. Immer mehr wollen ins Ausland und dort arbeiten, damit sie dann die Eltern in der Heimat finanziell unterstützen können. Im Libanon sieht eine ganze Generation keine Zukunft mehr. Sie können sich keine eigene Existenz aufbauen, nicht heiraten, sich kein Heim schaffen und eine Familie gründen.

RB: Haben Sie auch schon einmal daran gedacht, den Libanon zu verlassen?
Marie Ghiya: Früher hätte ich das niemals in Betracht gezogen. Doch mittlerweile schließe ich es für mich nicht mehr aus.

RB: Was gibt den Menschen im Libanon noch Hoffnung?
Marie Ghiya: Es ist traurig zu sagen, doch ich denke, es gibt keine Hoffnung mehr. Egal mit wem ich mich unterhalte oder wo ich gerade bin, in jedem Gespräch und bei jeder Begegnung sind Stress und Traurigkeit zu spüren. Einzig aus dem Glauben beziehen religiöse Menschen noch Kraft.

RB: Wie gehen Sie mit all den Problemen um und was hilft Ihnen?
Marie Ghiya: Als Sozialarbeiterin habe ich mittlerweile viel Erfahrung. Ich weiß, was es braucht, um Lösungen zu finden und umzusetzen. Doch es gibt Grenzen und äußere Umstände, die blockieren. Das ist frustrierend. Was mich auffängt sind meine Berufskolleginnen und -kollegen und mein Netzwerk an lokalen und internationen Organisationen. Mit ihnen bin ich in Kontakt und sie stärken mich und meine Projekte. Ich kann bedürftigen Menschen helfen und dazu beitragen, dass es ihnen besser geht. Das alleine ist für mich ein Grund immer weiter zu machen. Abwarten und schauen was passiert, ist eigentlich nicht mein Motto. Und doch bin ich der Meinung, es kann nicht mehr schlimmer kommen. Wenn es uns also gelingt, diese Krise jetzt zu überstehen, dann muss es wieder aufwärts gehen.

RB: Was bedeutet die Unterstützung der Caritas Salzburg für Ihre Arbeit?
Marie Ghiya: Das bedeutet sehr viel. Leider ist der Libanon nicht in der Lage, sich um seine sozial schwachen und armen Menschen im Land zu kümmern. Wir sind deshalb auf die Hilfe und Spenden wie sie aus Österreich kommen, angewiesen. Damit können wir Bildungsprojekte finanzieren und Menschen unter die Arme greifen, die bei der Beirut-Explosion ihr Hab und Gut verloren haben oder die aufgrund der Coronapandemie in eine schwierige Lage geraten sind. Konkret können wir dank der Caritas Salzburg weiterhin rund 30 bedürftige Familien mit monatlichen „Versorgungspaketen“ versorgen. Das ist gar nicht so einfach. Alles ist teurer geworden und manchmal sind Mehl oder Speiseöl, Medikamente oder Windeln einfach nicht zu bekommen. Wir müssen für die Einkäufe oft mehrere Geschäfte abklappern oder Schlange stehen.

Tipp: Der aktuellen Printausgabe des Rupertusblatts liegt ein Caritas-Zahlschein bei. Oder spenden Sie auf das Konto Raiffeisenverband Salzburg, IBAN AT11 3500 0000 0004 1533, BIC RVSAAT2S, Kennwort: Hungerkampagne 2021.

Marie Ghiya mit einem ihrer Schützlinge in Broumana. Die Sozialarbeiterin sorgt dafür, dass die ärmsten Familien zu essen haben und die Kinder weiter in die Schule kommen. | Foto: RB/Caritas
Kinder in Beth Aleph – einem Bildungsprojekt im Libanon. | Foto: RB/Caritas
Autor:

Ingrid Burgstaller aus Salzburg & Tiroler Teil | RUPERTUSBLATT

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