Kommentar von Lydia Kaltenhauser
Die leisen Töne
Das Hören auf die leisen Töne des Menschseins ist eine Kunst und eine Gnade. Und es ist in höchster Gefahr.
Er sitzt oft still auf dem Balkon und lauscht: auf das Rauschen der Bäume, auf entfernte Stimmen, vor allem aber auf das Vogelgezwitscher. Manchmal kommen ihm dabei vor Freude die Tränen. Denn das Singen der Vögel hat er fast 40 Jahre lang nicht mehr gehört. Seitdem er auf beiden Seiten Hörimplantate trägt, hat sich ihm eine neue Welt eröffnet, der er dankbar und ergriffen lauscht. Meinen Vater so zu erleben, ist für mich eine Schule der Dankbarkeit. Der Gedanke tröstet mich, wenn mich der zwischenmenschliche Umgangston in unvermeidlichen Kontexten frösteln oder verzweifeln lässt. Empathie wird von mächtigen Menschen unserer Zeit, „deren Namen ich nicht auf meine Lippen nehme“ (vgl. Ps 16,4), als große Schwäche gesehen. Aus gutem Grund wird im Stundengebet täglich gebetet: „Verhärtet euer Herz nicht“ (Ps 95,9). Weil es für ein taubes Herz keine Implantate gibt. Wer nur zetern, drohen und einschüchtern kann, leidet selbst am meisten an seinem verhärteten Herzen. Weil das Leben kurz ist und die leisen Töne jenen Hauch von Ewigkeit herüberwehen, der uns am Leben hält.
Autor:Lydia Kaltenhauser aus Tirol | TIROLER Sonntag |