Paul M. Zulehner zur Zukunft der Kirche
Aufbruch in eine neue Ära

Foto: Haab

Vor geraumer Zeit sagte Papst Franziskus den italienischen Bischöfen: „Wir leben nicht in einer Ära des Wandels, sondern erleben einen Wandel der Ära.“ Was bedeutet das für die Kirchen?
ZULEHNER: Der Papst ist außerordentlich zeitsensibel. Er liest, wie Jesus es den religiös Verantwortlichen in Israel empfohlen hatte, die Zeichen der Zeit und deutet diese aus der Perspektive des Evangeliums. Ein Zeichen der Zeit ist für ihn als Freund des Zweiten Vatikanischen Konzils, dass die sogenannte „Konstantinische Ära“ zu Ende ist. Diese war geprägt von der Verbindung von Kaiser und Papst, Thron und Altar. Ein christliches Abendland entstand mit einer grandiosen Kultur. Für die Menschen hieß dies, dass sie als Untertanen des Kaisers und des Papstes Christen zu sein hatten. In der Kirchenspaltung vor 500 Jahren, die ein Verrat an Jesu Bitte um Einheit war, musste man dann je nach Herrscher Protestant oder unter den katholischen Habsburgern Katholik sein. Protestanten mussten auswandern, gingen in den Untergrund und wurden erst nach und nach „toleriert“. All das ist vorbei. Heute wird in Österreich niemand mehr gezwungen, Mitglied einer Kirche zu sein. Die Menschen auch in Kärnten sind frei, zu wählen. Wir sind aus einer „Ära des Zwangs“ in eine „Ära der Wahl“ gelangt, so der große Religionssoziologe Peter L. Berger.

Man sagt gern: Kärnten ist anders. Trifft das auch hier?
ZULEHNER: Ein wenig schon, aber grundsätzlich nicht. Das Christentum ist bei nicht wenigen Menschen kulturell noch stärker verwurzelt als in anderen Regionen des Landes. Kärtnerinnen und Kärntner schätzen die Rituale zu den großen Lebensübergängen Heirat, Geburt und Tod nach meiner Wahrnehmung mehr als die Menschen in anderen Bundesländern. Das Osterfest ist mit der Speisensegnung auch stark kulturell geprägt. Aber auch in Kärnten verdunstet das traditionelle Christentum lautlos. Selbst in konfliktfreien Zeiten verlassen Menschen, zumal junge, ihre Kirche.

Wenn die Menschen frei wählen können: Wann bleiben sie in der Kirche, feiern den Gottesdienst mit und engagieren sich für die Armen – und wann kehren sie der Kirche den Rücken?
ZULEHNER: Vielleicht würden mehr Menschen in der Kirche mitleben, wenn diese aus dem Mittelpunkt gerückt würde. Denn die Kirche ist, so Jesus in einer bildreichen Predigt, wie ein Schlauch. Der Sinn des Schlauches ist aber, dass er Wein aufnimmt. Worauf es also künftig ankommt, ist guter junger Wein für das Leben der Menschen. Um das Bild zu wechseln: Die Kirche muss gleichsam aus der Sonne gehen, die Jesus, der Christus ist, und diesen mit dem ganz alltäglichen Leben, Lieben und Leiden der Menschen in Verbindung setzen.

Papst Franziskus mahnt die Kirche, an die Ränder der Gesellschaft zu gehen. Eine Kirche der Armen also?

ZULEHNER: Das ist in einem wohlhabenden Land gar nicht so einfach. Dabei liegt es nicht an den Gütern, die wir haben, sondern daran, dass die Güter uns haben. Wir haben um uns viel zu viel Angst. Um es in dieser auszuhalten, häufen wir Reichtum an, um uns sicher zu fühlen. Die Angst besiegt man aber nicht mit Sicherheit, sondern nur mit Vertrauen. Die Kirchen könnten heute wie Oasen des Vertrauens inmitten der Kulturen der Angst sein. In allem, was die Kirche tut und sagt, sollte sie jenen Gott in Erinnerung halten, der die Menschen auch in der Todesangst nicht im Stich lässt, aber auch nicht in der Angst vor schutzsuchenden Menschen oder dem Corona-Virus.

Mit anderen Worten: Die neue Situation ruft nach einer veränderten Kirche, die die Menschen mit Gott auf neue Weise in Verbindung bringt?
ZULEHNER: Jesus kam im Namen Gottes, um in der Welt eine Bewegung auszulösen. Ihm lag nicht so sehr daran, dass die Menschen aus der „bösen Welt“ heraus gerettet werden und moralisch perfekt in den Himmel kommen. Sein Programm war, dass der Himmel jetzt schon zu uns kommt. Er nannte es Reich Gottes, also eine Welt, die auf Gott nicht vergisst. Dieses Setzen auf Gott trägt im jetzigen Leben gute Früchte. Die biblischen Texte nennen Wahrheit, Gerechtigkeit, Friede, Freude. Also ausgereifte Menschlichkeit. Gott wurde Mensch, damit die Welt menschlicher wird. Ich finde die Ansage von Bischof Josef Marketz treffgenau, wenn er sich wünscht, dass es am Ende seiner Amtszeit mehr Liebe im Land gibt, weil die Menschen in solidarischer Liebe gewachsen sind und auch die Politik die Solidarität mit den Schwächeren nicht übersieht. Und das in der einen Welt.

Viele möchten die Reformen bei der Struktur der Pfarren oder den Ämtern beginnen, Sie verweisen auf Jesus und solidarische Liebe: Was ist wesentlich?

ZULEHNER: Die stärksten Reform-impulse, in denen sich eine daniederliegende Kirche erneuert hat, kamen immer aus einer mystischen Tiefe. Ich denke an die Armutsbewegung des heiligen Franz von Assisi, der unseren Papst fasziniert, weil er die Schöpfung liebt und eine arme Kirche wollte. Mystische Menschen sind keine Frömmler, sondern zumeist revolutionär. Sie wissen sich als Teil der Bewegung, die Jesus in die Welt gebracht hat. Sie leben in Gemeinschaften des Evangeliums. Der Europaapostel Paulus war sich sicher, dass diesen Gemeinschaften durch Gottes Geist alles gegeben ist, was sie für ihr Leben und Wirken brauchen: Begabungen, Talente, Kompetenzen. Sie haben dann Personen in ihrer Mitte, welche die Begabung des Leitens haben. Priestermangel kannte Paulus nicht, weil er die „Vorstehenden“ aus den Gemeinden nahm und nicht vom freien Berufungsmarkt und auch nicht aus der internationalen Priesterbörse. Diese Gemeinschaften des Evangeliums sind wie offene Herbergen. Sie nehmen spirituell Suchende gastfreundlich auf, moderne Pilger also, und begleiten diese, oftmals nur ein Stück des Lebenswegs. Mit anderen Gemeinschaften machen sie, so gut es geht und das Geld reicht, auch soziale Projekte, arbeiten in der Bildung, sorgen sich um schutzsuchende Menschen.

Eine solche biblische Vision klingt reizvoll und birgt sicher Chancen. Aber stellen Sie damit nicht das herkömmliche Kirchenbild auf den Kopf?
ZULEHNER: Ich würde es andersherum formulieren: Die Kirche steht derzeit auf dem klerikalen Kopf, ich aber stelle sie wieder auf gesunde Beine. Eine Kirche, die auf Klerikalismus aufgebaut ist, welche unmündige Menschen betreut, die vielleicht gar nicht mündig werden wollen, weil sie das in der Kirche bisher kaum erlebt haben: Eine solche Priesterkirche hat auch in Kärnten keine Zukunft. Was es braucht, sind Menschen, die sich von Gott beanspruchen lassen, sich der Bewegung Jesu anschließen und damit eine Kirche formen, die für alle Menschen in Kärnten als Licht ausleuchtet, was Gott mit allen vorhat, und das auch wie Heilsalz heilend voranbringt: dass sie wie Gott selbst liebende Menschen werden.

Autor:

Gerald Heschl aus Kärnten | Sonntag

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