Schlusspunkt von Józef Niewiadomski
Die Gesetze der Zivilisation

„Was wäre das erste Anzeichen der Zivilisation?“ Diese Frage stellte man einer der im 20. Jahrhundert berühmtesten Anthropologinnen. Die Palette der damals immer wieder heruntergeleierten Schlagworte war nicht breit: Tonschalen, gehauene Steine, Angelhaken und einiges Derartiges mehr. Margaret Mead dachte kurz nach und sagte zur völligen Verblüffung ihrer Zuhörer: ein zusammengewachsener Oberschenkelknochen. Und sie begründete ihre Antwort folgendermaßen: Ein Tier, das sich diesen Knochen bricht, kann in der Wildnis nicht überleben. Es kann nicht jagen und auch nicht vor der Gefahr fliehen. Es kann auch nicht zum Fluss laufen, um seinen Durst zu stillen. Der zusammengewachsene Knochen ist ein klarer Beweis dafür, dass sich irgendjemand um den Verunglückten kümmern muss: ihn an einen sicheren Ort bringen, ihm den Verband anlegen, ihn füttern und auch die lange Zeit der Rekonvaleszenz beschützen. Dort, wo nur die „Gesetze des Dschungels“ gelten, wo also nur die Stärksten überleben, dort fand man auch keine zusammengewachsene Femure. So heißen nämlich in der Fachsprache diese in menschlichem Skelet längsten Knochen. Die ersten Spuren der Zivilisation weisen auf das tatkräftige Mitgefühl hin. Und auf den Dienst am Nächsten!

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TIROLER Sonntag Redaktion aus Tirol | TIROLER Sonntag

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