Beten Teil 1- Bischof Hermann Glettler
Eine Umarmung bitte!

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Der Hörgott ist ganz Ohr. Er ist der Resonanzraum für die Stimmen dieser Welt. Bischof Hermann Glettler teilt seine Erfahrung mit dem Beten.

„Eine Umarmung bitte!“ Mit diesen Worten zog mich eine Frau mit schwerer Krebserkrankung zu sich hin. Für ihren Aufenthalt im Hospiz wollte sie einen persönlichen Segen und ein Gebet. In diesem Augenblick habe ich verstanden: Beten heißt, sich von Gott umarmen lassen. Es sind nicht viele Worte notwendig. Beten geschieht einfach. In allen Lebenslagen – vor allem dann, wenn uns die Schönheit und Zerbrechlichkeit des Lebens deutlich vor Augen stehen.

„Beten heißt, sich von Gott umarmen lassen.“

HERMANN GLETTLER

ECHTES BETEN FASZINIERT
„Du reiches, fließendes, unaufhaltsames, unerschöpfliches Du“, heißt es in einem Gebet von Martin Gutl (1942–1994), dem Mitbegründer der österreichischen Telefonseelsorge. Für mich war dieser steirische Priester eine wichtige Leitfigur, um meine Berufung zu finden. Er hat unzählige Menschen begleitet, ihre Schicksale „aufgesaugt“ und mitgetragen. Aus seinem persönlichen Ringen mit Gott sind zahlreiche Gebete entstanden – Texte, die aufrichten und unter die Haut gehen. Echtes Beten fasziniert. Auch von den Jüngern Jesu wird dies berichtet. Als sie sahen, wie er zu seinem Vater betete, gab es für sie nur einen Wunsch: „Herr, lehre uns beten!“ In dieser Schule Jesu sind auch wir.

„Mehr noch als für seine Not braucht man einen Gott für seinen Dank.“

ELIAS CANETTI

EINE VERLÄSSLICHE ADRESSE
Elias Canetti (1905–1994) hat von sich erzählt, dass er selbst als Agnostiker immer öfter an Gott zu denken begann – vor allem dann, wenn er eine verlässliche Adresse für seine wachsende Lebens-Dankbarkeit suchte: „Mehr noch als für seine Not braucht man einen Gott für seinen Dank.“ Beten bricht die Arroganz, dass wir die Macher des Lebens seien. Und alles nur von unserem Tun abhängen würde. Wer betet, nimmt sich als Teil eines größeren Ganzen wahr und beginnt über die täglichen Wunder zu staunen. Beten vermittelt die Gewissheit, nicht einem blinden Schicksal ausgesetzt zu sein. Die verlässliche Adresse ist der leidenschaftlich liebende Gott – keine unerreichbare Höchstinstanz.

JEDERZEIT GUT ERREICHBAR
Den gefürchteten oder banalisierten „Herrgott“ möchte ich als „Hörgott“ bezeichnen. Diese kreativ schlampige Vokalverschiebung ändert sehr viel. Der Hörgott ist der unendliche Resonanzraum für die unzähligen Stimmen dieser Welt, für die lauten und leisen. Er ist ganz Ohr. Und ganz Herz. Keine menschliche Stimme ist ihm fremd. Auch nicht die verzweifelten Schreie seiner geschundenen Schöpfung. Beten ist jedenfalls nicht kompliziert. Es gehört zum Herzschlag unseres Menschseins und bringt eine heilsame Ruhe in nervöser Zeit.

„Beten ist jedenfalls nicht kompliziert.“

HERMANN GLETTLER

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Du strömendes Du

Wie Tau auf den Gräsern liegst Du auf meinen Gedanken. Wie ein Morgen breitest Du Dich aus über meine Tiefen. Wie ein Abend hüllst Du uns ein in Dein Schweigen, Du bleibendes Antlitz hinter unseren flüchtigen Blicken, Du strömendes Du hinter meiner Maske. Du Ozean in den Augen der Guten, Du Friede in den Händen der Liebenden, Du reiches, fließendes, unaufhaltsames, unerschöpfliches Du! Du helles, Du dunkles Du! Du überdachst mich mit dem Zelt Deines Alls. Du birgst mich, Du erziehst mich zur Weite. Du strömendes Du!

MARTIN GUTL (1942 – 1994) PRIESTER UND AUTOR

Hermann Glettler (Hg.) hörgott Gebete in den Klangfarben des Lebens Mit Zeichnungen von Hans Salcher 256 Seiten, 14 Abb. Tyrolia-Verlag Innsbruck – Wien 2. Auflage 2024 ISBN 978-3-7022-4157-5 19 €

Autor:

martinus Redaktion aus Burgenland | martinus

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