Europas Narben halten den Kontinent zusammen

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Ohne Mitgliedsstaaten und ihre Regionen wäre die Europäische Union nichts. Ohne die EU wären die Staaten zu schwach. Die Europawahlen verbinden sie.

Seit Tagen nieselt es in Brüssel. Kein Wunder – hier regnet es im Durchschnitt fast jeden zweiten Tag. Das holprige Pflaster vieler Gehsteige ist mit einer glitschigen Schmutzschicht überzogen. Nach ein paar Schritten sind auch die Schuhe schmutzig. Ziel der Schritte ist heute der „Europäische Ausschuss der Regionen“, eine Einrichtung der Europäischen Union, die im EU-Viertel zwischen Parlament und Kommission liegt.

BRÜSSEL REICHT NICHT
Der gebürtige Kärntner Christian Gsodam kennt die EU-Institutionen wie wahrscheinlich niemand sonst aus Österreich. Bereits bevor Österreich Mitglied der Europäischen Union wurde, arbeitete er für deutsche Abgeordnete im EU-Parlament. In den letzten Jahren leitete er das Kabinett des Generalsekretärs im Ausschuss der Regionen. Brüssel allein genügt nicht, sagt der erfahrene EU-Beamte: „Man muss hinaus in die Regionen, zu den Menschen.“ Wer Verantwortung trägt, solle sich fragen, was die Sorgen und Probleme der Menschen seien. „Auch, warum sie die EU nicht gut finden. Und welche Mythen herumgeistern.“ Dafür hat er Zukunftsgespräche mit der englischen Bezeichnung „Future Talks“ erfunden, die meistens an Schulen stattfinden. Sie münden jeweils in intensive Diskussionen mit Menschen aus der EU-Praxis.

ETWAS FÜRS HERZ
Warum relativ viele in Europa der Europäischen Union skeptisch gegenüberstehen? Einer der Gründe ist die Art, wie über Politik gesprochen wird, meint Christian Gsodam. „Nach dem Zweiten Weltkrieg, nach Nationalsozialismus und Kommunismus haben wir in Europa eine Scheu entwickelt, politische Projekte emotional zu vermitteln.“ Trotzdem müsse man Emotion in die Kommunikation bringen. „Wir brauchen dreierlei: Erstens den Logos, also die Vernunft, zweitens das Ethos – Werte, die dahinter stehen, und drittens das Pathos, die Emotion, anders gesagt: etwas für das Herz. Und darin sind wir schwach.“ Allerdings erlebe er selbst nicht die meisten Menschen als EU-skeptisch. „Wenn sie gefragt werden, ob es besser ist, dass wir unsere Zukunft in Europa gemeinsam oder allein gestalten, sagen die meisten: Gemeinsam!“ Es sei wichtig, den Menschen zu zeigen, was die EU bringe. „Denn was funktioniert, merkt man nicht. Zum Beispiel hat der Euro in den vergangenen Jahren viele Volkswirtschaften stabilisiert.“

„Wir brauchen etwas fürs Herz. Darin sind wir schwach.“

CHRISTIAN GSODAM

EIN POLITISCHES SPIEL
Dass das Ansehen der EU dennoch nicht hoch ist, liegt laut Christian Gsodam auch am politischen Spiel. „Jeder Politiker versucht darzustellen, was er gut gemacht hat und was andere nicht richtig gemacht haben. Er möchte nicht zeigen, was er selbst vielleicht nicht richtig gemacht hat.“ Brüssel als Sitz vieler EU-Institutionen gilt in den EU-Ländern als eine Art Sündenbock für unpopuläre innenpolitische Entscheidungen, nach dem Motto: „Dieses und jenes musste ich machen, weil Brüssel es so wollte.“ Umgekehrt wird eine Neuerung, die gut ankommt, als eigene Errungenschaft präsentiert.

Dass EU-Politik als „weit weg“ empfunden wird, sieht Gsodam auch in der Größe der Europäischen Union begründet. „Um Gesetze für 450 Millionen Menschen zu machen, braucht es eine gewisse Abstraktion. Dadurch wirkt es leicht abgehoben.“

SCHWACH UND STARK ZUGLEICH
Nicht nur die eigenen Bürgerinnen und Bürger muss die EU von ihrer Wirksamkeit überzeugen. Auch anderen Kontinenten und großen Staaten gegenüber „haben wir Probleme“, wie Christian Gsodam eingesteht. Gegen resolut auftretende Staaten wie Russland, China und die USA „muss Europa lauter und intensiver werden, um sich Gehör zu verschaffen“. Das sei eine Herausforderung, so Gsodam. Einerseits, weil die EU demokratisch aufgesetzt ist, nicht autoritär wie Russland oder China. „Dadurch dauern Entscheidungen länger.“ Dazu kommt, dass die EU multinational ist. „Daher dauern die Entscheidungen doppelt lang.“ Die Vielfalt sei aber oft auch ein Gewinn. „Die verschiedenen Geschichten und Kulturen, die in der EU vereint sind, können uns zum Beispiel in einem außereuropäischen Konflikt helfen, Kontakt zu beiden Seiten aufzubauen.“

ARROGANZ DER KOLONIALZEIT
Was der EU außerdem im Weg steht, ist die Kolonialgeschichte. „Der globale Süden ist erstarkt und selbstbewusster, er braucht Europa nicht mehr wie früher.“ Die EU müsse sich überlegen, wie sie das löst. „Europa hat teilweise immer noch eine koloniale Art und Weise, mit anderen umzugehen. Davon müssen wir uns verabschieden. Dann steigt vielleicht auch unser Ansehen wieder.“ Dieser Punkt betrifft auch Gsodams künftiges Aufgabenfeld. Er ist am Sprung vom Ausschuss der Regionen in den Auswärtigen Dienst der EU, wo er für strategische Kommunikation und Planung zuständig sein wird.

KRIEG UND SCHÖNERE THEMEN
Die Lage hat sich durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine verändert. Man habe in Europa damit gelebt, dass die Zeit der teuren Rüstung überwunden sei. Das Geld wurde besser eingesetzt für Umweltstandards, Bildung, Gleichberechtigung, Demokratisierung. „Wir haben die Frage des Kriegs in Europa zu Grabe getragen und uns mit schöneren Dingen beschäftigt. Nun kommt der Krieg näher, auch in Europa.“ Im Krieg zählten aber keine Umweltstandards, keine höhere Bildung, keine Gleichberechtigung. „Die Frage ist: Wie können wir verteidigen, dass wir uns weiterhin in Frieden den schöneren Themen widmen können?“ Man dürfe nicht vergessen, dass Russland eine nukleare Weltmacht ist. „Das ist anders als es beim Jugoslawienkrieg war.“ Dieser sei ebenso furchtbar gewesen, aber „er hatte nicht die Kraft, uns zu verschlingen“, vergleicht Gsodam die 1990er-Jahre mit heute.


„Die Regionen sind die Nahtstellen und Narben Europas.“


Was nach Verwundungen an Heilung in Europa möglich ist, sehe man in den Grenzregionen innerhalb der EU, kehrt Christian Gsodam noch einmal gedanklich in den Ausschuss der Regionen zurück. „Die Regionen entlang der Staatsgrenzen sind die Nahtstellen Europas. Das Kleid Europa wird dort zusammengehalten. Und – es sind auch die Narben Europas.“

M. SLOUK

Zwei Österreicher, die sich in Brüssel engagieren: Christian Gsodam, der seit 30 Jahren für EU-Institutionen arbeitet, und Bischof Ägidius J. Zsifkovics, der in der Österreichischen Bischofskonferenz für Europafragen zuständig und Mitglied der EU-Bischofskonferenz COMECE ist. „Europa ist kein fertiges Haus, sondern ist und bleibt eine Baustelle“, so der Bischof. „Wir sind ein Teil davon, bringen unsere Talente ein und bauen mit an diesem Haus. Es bringt nichts, wenn wir das dem rechten oder linken Rand überlassen“, sagt Bischof Zsifkovics angesichts der um sich greifenden Europamüdigkeit.  | Foto: Slouk
  • Zwei Österreicher, die sich in Brüssel engagieren: Christian Gsodam, der seit 30 Jahren für EU-Institutionen arbeitet, und Bischof Ägidius J. Zsifkovics, der in der Österreichischen Bischofskonferenz für Europafragen zuständig und Mitglied der EU-Bischofskonferenz COMECE ist. „Europa ist kein fertiges Haus, sondern ist und bleibt eine Baustelle“, so der Bischof. „Wir sind ein Teil davon, bringen unsere Talente ein und bauen mit an diesem Haus. Es bringt nichts, wenn wir das dem rechten oder linken Rand überlassen“, sagt Bischof Zsifkovics angesichts der um sich greifenden Europamüdigkeit.
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WAHLJAHR
Brüssel und Straßburg halten den Atem an. Bevor Wahlberechtigte aus 27 Ländern ihre 720 Abgeordneten in das EU-Parlament wählen, räumen alle derzeitigen Abgeordneten die Parlamentsbüros. Die politische Atempause wiederholt sich seit 1979 alle fünf Jahre. Von 6. bis 9. Juni wird die Zusammensetzung des EU-Parlaments, das einen Sitz im französischen Straßburg und einen im belgischen Brüssel hat, neu bestimmt. Es gibt sieben Fraktionen. EU-Gesetze entstehen im Zusammenspiel von EU-Kommission (27 Mitglieder), EU-Parlament und Rat der EU (nicht zu verwechseln mit dem Europäischen Rat).

Zwei Österreicher, die sich in Brüssel engagieren: Christian Gsodam, der seit 30 Jahren für EU-Institutionen arbeitet, und Bischof Ägidius J. Zsifkovics, der in der Österreichischen Bischofskonferenz für Europafragen zuständig und Mitglied der EU-Bischofskonferenz COMECE ist. „Europa ist kein fertiges Haus, sondern ist und bleibt eine Baustelle“, so der Bischof. „Wir sind ein Teil davon, bringen unsere Talente ein und bauen mit an diesem Haus. Es bringt nichts, wenn wir das dem rechten oder linken Rand überlassen“, sagt Bischof Zsifkovics angesichts der um sich greifenden Europamüdigkeit.  | Foto: Slouk
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martinus Redaktion aus Burgenland | martinus

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