EIN_BLICK
Gegen das Vergessen

Die Pianistin Martha Cohen am Flügel in ihrem früheren Zuhause in Berlin. An der Wand hängt ein Porträt ihres Mannes Hermann Cohen, gemalt von Max Liebermann.  | Foto: Archiv Ingke Brodersen
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  • Die Pianistin Martha Cohen am Flügel in ihrem früheren Zuhause in Berlin. An der Wand hängt ein Porträt ihres Mannes Hermann Cohen, gemalt von Max Liebermann.
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Ingke Brodersen beschäftigt sich als deutsche Historikerin immer wieder mit der Zeit des Nationalsozialismus. In ihrem neuen Buch „Lebewohl, Martha“ erinnert sie an Schicksale jüdischer Bewohner:innen, die in der NS-Zeit in dem Haus wohnten, in dem sie heute lebt.

Seit 1990 wohnen Sie in Berlin-Schöneberg in einem Haus, in dem zur NS-Zeit 24 Jüdinnen und Juden lebten, bevor sie deportiert und ermordet wurden. Wie sind Sie auf diese Lebensgeschichten gestoßen?

Ingke Brodersen: Beim Einzug in diese Wohnung wusste ich noch nicht, was sich in diesem Haus ereignet hatte in den Jahren des Naziregimes. 1993 wurde dann hier im Bayerischen Viertel in Berlin-Schöneberg, wo viele wohlhabende Juden wohnten, eine Gedenkstelle geschaffen und 80 Tafeln an Laternenmasten installiert, auf denen jeweils eine der vielen antisemitischen Verordnungen zu lesen ist. Zum Beispiel durften Jüdinnen und Juden keine Bücher und Zeitungen mehr kaufen, keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr nutzen, es wurde ihnen verboten Konzerte zu besuchen und Badeanstalten zu betreten. Sie unterlagen massiven Einschnürungen. Vor unserem Haus hängt die Tafel „Kennzeichnungszwang für Wohnungen jüdischer Familien durch den Judenstern.“ Meine erste Vermutung war, in diesem Haus musste etwas passiert sein.

Ich kann mir vorstellen, dass Ihnen als Historikerin das keine Ruhe mehr gelassen hat, dieser Vermutung auf den Grund zu gehen ...

Brodersen: Ja, aber die Recherchen waren langwierig und dauerten Jahre. Nach und nach lernte ich die Namen der 24 Personen kennen. Fündig wurde ich u. a. im Katalog „Orte des Erinnerns“, wo man Straße für Straße, Hausnummer für Hausnummer die Namen derjenigen lesen kann, die aus diesem Viertel deportiert worden waren. Gleichzeitig schaute ich im Berliner Adressbuch nach, das es auch für die Jahre der Nazizeit gibt, wo steht, wer in diesem Haus als Mieter registriert war. Interessanterweise gab es da fast keine Übereinstimmungen der Namen. Im Berliner Adressbuch waren nur drei unter den 24 als offiziell registrierte Mieter angegeben.

Wieso wurden sie nicht erfasst?

Brodersen: Es waren Zwangseingewiesene. Hitler wollte durch seinen Architekten Albert Speer Berlin zur führenden Weltstadt ausbauen lassen. Aber die Nazis hatten insbesondere in dieser Stadt das Problem, dass 200.000 Wohnungen fehlten. Es zogen ja immer mehr Rüstungsfirmen nach Berlin, es entstanden Ministerien und Verwaltungsgebäude und all diese leitenden Angestellten sollten mit einer Wohnung beglückt werden. Aber woher sie nehmen? Albert Speer, damals Generalbauinspektor für Berlin, später Rüstungsminister, kam dann auf die Idee der Entjudung des Wohnungsbestandes.

Was bedeutet das?

Brodersen: Juden wurden ohne Kündigungsschutz, ohne Angabe von Gründen zur Räumung ihrer Wohnungen aufgefordert, enteignet und in sogenannte Judenhäuser, wie unseres eines war, zwangseingewiesen. Und zwar in Wohnungen der bereits dort wohnenden Juden. So kamen diese 24 Personen hierher. De facto waren es noch mehr, weil einige zum Glück vor ihrer Deportation entkommen sind. Die meisten der hier im Haus Zwangseingewiesenen wurden also gar nicht mehr offiziell erfasst, weil man davon ausging, sie würden ohnehin bald deportiert werden. Es war ihre letzte Adresse. Insgesamt wurden in Berlin-Schöneberg 6069 Jüdinnen und Juden ermordet.

Reichspropagandaleiter Joseph Goebbels nannte das Bayerische Viertel ein „Judenparadies“. Warum?

Brodersen: Das lag daran, dass hier um die Jahrhundertwende großbürgerliche komfortable Häuser entstanden, wie auch unser Haus, ausgestattet mit Zentralheizung und mit Bad in der Wohnung. Deswegen waren sie begehrt bei jüdischen Persönlichkeiten, die hier im Viertel lebten, wie Albert Einstein und Billy Wilder. Leider führte das dazu, dass auch viele der Nazis gerne eine solche Wohnung haben wollten. Da es ja daran und auch an Baumaterial und Arbeitskräften mangelte, kritisierte Albert Speer bei einem Besuch im österreichischen KZ Mauthausen die SS unter Himmler dafür, dass sie viel zu verschwenderisch mit Material vor allem für die Häftlingsbaracken umginge und man müsse doch zu einer Primitivbauweise für Häftlinge kommen.

In der Fünf-Zimmer-Wohnung, in der Sie heute leben, gab es damals eine unfreiwillige Frauen-WG. Eine der Frauen war Martha, die im Buchtitel schon genannt wird ...

Brodersen: Ja. Martha Cohen war eine begabte Pianistin (Anm.: siehe Kasten rechts oben) und sie kam 1939 in dieses Haus. Vermutlich musste sie ihre vorhergehende Wohnung, die im Bezirk Tiergarten in dem Haus der jüdischen Familie Simion lag, räumen, denn auf dieses Haus erhob die oberste Heeresleitung Anspruch. Ihr wurden schon bald nach dem Einzug zwei Frauen zugewiesen, die ebenfalls dazu gezwungen worden waren, ihre Wohnungen aufzugeben: die Witwe Clara Marcus und Bertha Sternson. Dazu gehörte die nichtjüdische Marie Wiebach, die langjährige Haushälterin von Martha Cohen. Clara Marcus und Bertha Sternson wurden am 10. August 1942 nach Theresienstadt deportiert und dort ermordet. Martha Cohen ist am 1. September 1942 zum „Abtransport“ ins Lager Theresienstadt geholt worden. Dort starb sie zwei Wochen später.

Sie betreuen immer wieder Flüchtlinge und bringen Fluchterfahrungen von heute mit jenen der Jüdinnen und Juden Ihres Hauses, die damals flüchten konnten, in Verbindung. Was haben Sie dabei entdeckt?

Brodersen: Es gibt Berührungspunkte. Flucht ist eine extreme Erfahrung, die man wie eine Tätowierung sein Leben lang nicht wieder loswird. Dadurch, dass man die Heimat und all das, was einem vertraut und lieb ist, hinter sich lassen muss und es zu Trennungen kommt von Ehepartnern, Kindern und Eltern, auch von Wohlstand und Status, entstehen Wunden und Narben. Die Menschen sind entwurzelt, somit ist ihre soziale Lebenskraft blockiert und es ist schwer, sich in der Fremde wieder ein neues Zuhause aufzubauen. Die entkommenen Jüdinnen und Juden aus meinem Haus standen später alle vor zerrissenen Lebensfäden, obwohl sie in Sicherheit waren. Dadurch sind auch etliche Ehen zerbrochen. So geht es vielen Flüchtlingen heute ebenso.

Während des Schreibens sind Ihnen die 24 Personen immer nähergekommen. Trotzdem blieb eine Mauer des Schreckens. Was meinen Sie damit?

Brodersen: Ja, es entsteht eine Art Vertrautheit. Ich hatte mich vier Jahre lang fast täglich mit ihnen befasst. Aber natürlich war mir immer bewusst, dass sie etwas erlebt hatten, was einer in den Jahren nach dem Krieg geborenen Person wie mir überhaupt nicht zugänglich war in seinem albtraumartigen Schrecken. In eine so klaustrophobische Situation zu geraten, dass man zu nichts mehr Zugang hatte, nicht einmal zu einem Waldspaziergang – ein solches Leben ist für mich nicht vorstellbar. Ich kann die Fakten dazu aufzählen und die Verordnungen zitieren, aber was das im Inneren abschnürt und wie man damit umgeht, das entzieht sich meiner Vorstellungskraft.

War es Ihnen deshalb so wichtig, auch Privates der Bewohner:innen in Erfahrung zu bringen?

Brodersen: Ja, denn es rückt mir noch einmal viel näher, wenn sich dieses Wissen über die Zeit des Nationalsozialismus mit individuellen Schicksalen verbindet, selbst wenn man sie nur in Ansätzen erfassen kann wie ich bei vielen Personen, die hier in diesem Haus ihre letzte Zeit verbracht haben. Über Akten, Entschädigungsanträge usw. erfuhr ich von Marthas Flügel und ihrer Schreibmaschine, mit der sie Texte, die ihr erkrankter Mann ihr diktierte, auf Papier brachte, oder von den Bratkartoffeln, die sich der Besitzer des Hauses, Siegfried Kurt Jacob, der flüchten konnte, in seinem Versteck machte. Und wie der jüdische italienische Schriftsteller Primo Levo, der Auschwitz überlebte, so schön geschrieben hat: Die Toten sind nie zurückgekommen, um selber zu erzählen, was ihnen widerfahren ist. Also müssen wir es tun, um ihnen eine Stimme zu geben. Das Wissen um diese mörderische Zeit ist unverzichtbar, damit wir sie nicht vergessen.

INTERVIEW: SUSANNE HUBER

Buchtipp: Ingke Brodersen, Lebewohl, Martha. Die Geschichte der jüdischen Bewohner meines Hauses. Kanon Verlag 2023, € 26,70.

MARTHA COHEN
Die jüdische Pianistin Martha Cohen, geboren 1860 in Berlin, stammte aus einer Musikerfamilie. Sie war die Tochter des Komponisten Louis Lewandowski. Sein Name ist unter Jüdinnen und Juden bekannt, da er den Gottesdienst in Synagogen durch Musik wie Gemeindegesang revolutionierte. Seine Tochter heiratete mit achtzehn Jahren den doppelt so alten Philosophieprofessor Hermann Cohen. Die beiden führten eine harmonische Ehe, die kinderlos blieb. Als Hermann Cohen an einer Netzhautablösung am Auge erkrankte, arbeiteten sie gemeinsam u. a. an seinen Manuskripten. Ihr Mann starb 1918. Im Jahr 1939 musste Martha Cohen in das „Judenhaus“ ziehen, in dem heute die Historikerin Ingke Brodersen lebt. Von dort wurde die Pianistin am 1. September 1942 zum „Abtransport“ ins Lager Theresienstadt geholt, wo sie zwei Wochen später starb.

Die Pianistin Martha Cohen am Flügel in ihrem früheren Zuhause in Berlin. An der Wand hängt ein Porträt ihres Mannes Hermann Cohen, gemalt von Max Liebermann.  | Foto: Archiv Ingke Brodersen
Die Historikerin Ingke Brodersen war Herausgeberin der politischen Buchreihe rororo aktuell und leitete ab 1990 den Verlag Rowohlt Berlin. | Foto: Ken Yamamoto
Autor:

martinus Redaktion aus Burgenland | martinus

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