Interview zur Corona-Pandemie, zu Viktor Frankl und Sinn am Ende des Lebens
Für die Lieben gelebt

Prof DDr. Alfried Längle, geb. 27. März 1951 in Götzis, ist u.a. Psychotherapeut, Arzt für Allgemeinmedizin und lehrt weltweit an zahlreichen Universitäten. 2006 wurde er mit dem Vorarlberger Wissenschaftspreis ausgezeichnet. Heute ist Längle Ehrenpräsident der Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse in Wien. Er gilt als Begründer der modernen Existenzanalyse in Österreich. 
 | Foto: Regina Längle
  • Prof DDr. Alfried Längle, geb. 27. März 1951 in Götzis, ist u.a. Psychotherapeut, Arzt für Allgemeinmedizin und lehrt weltweit an zahlreichen Universitäten. 2006 wurde er mit dem Vorarlberger Wissenschaftspreis ausgezeichnet. Heute ist Längle Ehrenpräsident der Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse in Wien. Er gilt als Begründer der modernen Existenzanalyse in Österreich.
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Der aus Götzis stammende Existenzanalytiker Alfried Längle feiert heute am 27. März seinen 70. Geburtstag. Alfried Längle gibt im Interview Handlungsmöglichkeiten angesichts der Corona-Pandemie, spricht über seinen Lehrer und Freund Viktor Frankl, zeigt den Ort des Glaubens und erklärt die Vertrauenskrise der Jugend gegenüber der katholischen Kirche.

Wolfgang Ölz

Was hilft den Menschen in der Coronakrise?
Alfried Längle: Hilfe bedeutet immer zunächst zu klären, was denn benötigt wird. Die einen Menschen brauchen wirtschaftliche Hilfe, andere medizinische, wieder andere psychische Hilfe. Häufig sind Menschen in dieser Pandemie-Zeit dahingehend belastet, dass sie zu wenig physischen Kontakt haben, vereinsamen, Angst und Verunsicherung erleben und nun auch zunehmend belastende, depressive Gefühle bekommen. Jede Möglichkeit mit anderen Menschen zu sprechen, über Telefon, über die elektronischen Medien und die spärlichen Begegnungen, die möglich sind, sollten genutzt werden. Bei Vereinsamung hilft v. a., dass wir besser mit uns selber ins Gespräch kommen. Diese Zeit drängt uns, einen inneren Dialog zu entwickeln, auf seine Gefühle und Gedanken zu hören. Man kann versuchen, so mit sich zu sprechen, wie wenn man mit jemand anderem reden würde.
Wenn Angst und Unsicherheit herrschen, brauchen die Menschen in erster Linie Halt und Schutz. So führt uns die Pandemie vermehrt vor die Frage: Was gibt mir eigentlich Halt im Leben? Das sind natürlich vor allem Beziehungen, aber auch das Erleben von Regelmäßigkeiten, verlässliche Ordnung und Strukturen. Viel Schutz erhalten wir im zwischenmenschlichen Bereich durch Treue und natürlich auch im Glauben.

Was meinen Sie mit dem Begriff Sinn-Lockdown? Ist es so, dass die Leute im Lockdown den Sinn ihres Lebens nicht mehr im Blick haben?
Längle: Ja, für viele Menschen ist diese Situation ungewohnt, verbunden mit Veränderungen und Verlusten. Wenn eine Situation keinen Wert hat, dann kann man zunächst auch keinen Sinn erkennen, weil Wert und Sinn miteinander verknüpft sind. Sinn-Finden ist immer bezogen auf Wert-Erleben. Es ist bei Verlusten und Leid viel schwieriger, einen Sinn aus der Situation „herauszuschlagen“, wie Viktor Frankl gerne sagte. Dann ist um den Sinn zu ringen, er kann Anstrengung bedeuten, wie ich durch diesen Lockdown gut mit mir umgehe, wenn da weniger Unterhaltung mit anderen möglich ist. Ein Sinn könnte auch sein, dass ich mich umschaue und mich innerlich frage, wofür könnte diese schwierige Zeit gut sein? Könnte ich da etwas Neues versuchen? Wie wertvoll erlebe ich mein Leben überhaupt? Damit komme ich in tiefere Strukturen, weil ich auf den persönlich empfundenen Wert meines Lebens, des Mich-selbst-Seins stoße. Sinn beruht allgemein auf vier Themen: 1. auf meinem Können, 2. wie ich zum Leben stehe, 3. wie ich persönlich zu mir selbst stehe und 4. wo ich hingehöre und benötigt bin. Da kann ich Wertvolles erleben oder tun, z.B. spazieren, Sport treiben, Musik hören oder machen, kochen, arbeiten, beten, lesen usw.

Ihre Lehrtätigkeit führt Sie regelmäßig nach Osteuropa, Südamerika und die USA. Inwiefern ist die Verarbeitung der Pandemie in Österreich ähnlich oder unterschiedlich zu der in anderen Kulturen?
Längle: Es gibt Ähnlichkeiten und Unterschiede. Die Gefahr ist dieselbe. Das Virus kann überall anstecken und kann in manchen Fällen schwere Krankheiten auslösen oder gar zum Tod führen. Der Umgang mit dieser Situation ist durchaus verschieden. In Europa ist man darauf bedacht, Cluster ausfindig zu machen, um Sicherheit aufzubauen. Hier sind die Staaten sehr aktiv und versuchen den Bürgern Schutz zu ermöglichen, so viel es geht und gegebenenfalls auch Lockdowns zu verhängen. Das ist in Osteuropa, vor allem in Russland, nicht ganz so. Dort reagiert der Staat zwar auch, aber das Vertrauen der Bevölkerung in die Obrigkeit ist sehr viel geringer. Die Impfbereitschaft ist in Russland derzeit etwa bei 40 %. Die Bevölkerung vertraut dem eigenen Impfstoff nicht. Sie sind skeptisch, weil er viel zu schnell propagiert und zugelassen wurde. Die Lockdown-Regeln wurden zwar stark überwacht und eingehalten, das Versprechen einer häuslichen Betreuung von Infizierten wurde aber oft nicht gehalten. In Polen funktioniert es dagegen ähnlich gut wie bei uns. In Südamerika ist die Situation noch einmal anders. Da gibt es Länder wie Mexiko, wo staatliche Maßnahmen so gut wie nicht helfen, weil etwa ein Drittel der Bevölkerung Taglöhner sind und es keine staatliche Unterstützung gibt. Wer heute nicht arbeiten geht, hat am Ende des Tages nichts zu essen. Der Überlebenswille lässt die Maßnahmen praktisch unwirksam sein. Auch in Chile können sich 20 % der Menschen nicht an diese Regeln halten.

Hat sich die Zahl derer, die sich krisenbedingt existenzielle Fragen stellen und bereit sind, eine Therapie in Anspruch zu nehmen, nun durch die Pandemie stark vermehrt?
Längle: Wir haben noch nicht viele Daten über die Auswirkungen der Coronakrise auf die Inanspruchnahme von Psychotherapie, aber wir können schon eindeutig feststellen, dass es sehr viel mehr heranwachsende Menschen sind, die betroffen sind. Es waren 2020 ein Drittel mehr junge Leute, die psychische Begleitung und Therapie in Anspruch genommen haben. Auch bei Erwachsenen hat es zugenommen. Wobei ich dazusagen muss, die Zunahme an klinisch bedeutsamen Ängsten ist nicht so groß gewesen, wie befürchtet. Es hat die Ängstlichkeit zugenommen, aber nicht die Angststörungen. Wir erwarten eine Krankheitszunahme in der Größenordnung bei Erwachsenen bei 5 % bei Ängsten und etwa 10 % bei Depressionen. Das sind aber prognostische Daten, die noch verifiziert werden müssen.

Nehmen sie einen gewissen Neid gegenüber dem Corona-Musterknaben Vorarlberg wahr?
Längle: Bei den Menschen, mit denen ich zu tun habe, wird das eher freundlich quotiert und gegönnt. Es wird als ein Pilotprojekt gesehen. Es könnte da natürlich schon auch ein bisschen Neid entstehen, z.B. bei Betreibern von Gaststätten in Wien, die auf die Vorarlberger neidisch sind, weil sie früher öffnen können.

Sie stammen aus Götzis. Wie ist ihr Verhältnis zur Heimat in Wien?
Längle: Ich bin ein Vorarlberger geblieben und habe es mir so eingerichtet, dass ich in den letzten Jahrzehnten häufig in Vorarlberg beruflich tätig sein konnte. Nach wie vor komme ich gerne nach Vorarlberg und habe ja auch Geschwister, die in Vorarlberg leben.

Viktor Frankl war seit Beginn der Ehrenpräsident der „Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse“. Nun sind Sie mit 70 Jahren selbst der Ehrenpräsident dieser Gesellschaft. Was verbindet Sie mit ihrem Lehrer und Freund Viktor Frankl?
Längle: Frankl war für mich wirklich ein wichtiger Lehrmeister. Ich habe von ihm das ganz genaue Denken in den Bereichen Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie gelernt - auch viel an philosophischem und anthropologischem Hintergrund. Deswegen bin ich ihm zutiefst dankbar. Wir haben über zehn Jahre hinweg viele, sehr gute, interessante, auch humorvolle, witzige, lustige Gespräche geführt. Das verbindet mich nach wie vor mit ihm. Ich habe auch ein Buch über ihn geschrieben, das nun in einer weiteren Auflage beim Facultas Verlag in Wien erhältlich ist.

Frankl hat mit seinem berühmten Essay „Der unbewusste Gott“ 1948 eine erstaunliche Weitsichtigkeit bewiesen. Sinngemäß hat er dort vorausgesehen, dass die Religion viel personaler, die Anbetung Gottes viel persönlicher werden wird. Wie aktuell ist die Sichtweise Frankls von damals heute noch?
Längle: Ich würde sagen, dass Frankl hier eine sehr humane Sicht hatte und die gesellschaftlichen Trends gut eingeschätzt hat, nämlich die weitere Abwanderung der Menschen aus den Glaubensgemeinschaften und den Trend zur größeren individuellen Gestaltung des Religiösen und der Glaubensbezüge. Das ist eingetreten. Die katholische Kirche ist wirklich in einer ziemlichen Krise, gerade bei den jungen Menschen, die das Vertrauen vielfach verloren haben und sich nun viel mehr auf ihren persönlichen Glauben fokussieren. Verbunden damit ist ein gewisser Verlust an religiösem Wissen. Das wird nach dieser Winterszeit, wie das einmal Karl Rahner bezeichnet hatte, wieder kommen, aber im Moment ist dieser Frühling noch nicht da.

Bei Frankl sind das Gewissen und die innere Stimme das Einfallstor für das Göttliche, zumindest das Geistig-Spirituelle. Sehen Sie das auch so oder sind sie da eher auf der psychologischen Seite?
Längle: Das würde ich differenzieren. Für Frankl war das Gewissen das Einfallstor des Göttlichen, das haben Sie sehr richtig festgestellt. In unserem und meinem heutigen Verständnis der Existenzanalyse ist das Gewissen eine humane Fähigkeit, die uns allerdings so tief werden lässt, dass wir in das spirituelle Grundwasser der Existenz hineinreichen können. Ich würde es nicht gleichsetzen mit einer Stimme Gottes, das hat auch Hans Küng an Frankl in dem Buch „Existiert Gott“ stark kritisiert.

Sie sprechen vom „Seinserlebnis als Schlüssel zur Sinnerfahrung“. An anderer Stelle führen Sie aus, dass die Erfahrung des Seins als Ganzem ins Religiöse und Philosophische hineingeht. Ist nun die Seinserfahrung eine Dimension der Existenzanalyse?
Längle: Ja. Die Frage, dass ich überhaupt auf der Welt bin und dass es die Welt gibt, führen wir in unserer Arbeit über in eine existenzielle Sinnfrage, nämlich: Welchen Sinn hat es für Dich persönlich, dass Du da bist? Wofür könntest Du denn auf die Welt gekommen sein? Wo könntest Du fruchtbar werden und etwas beisteuern zu einem guten Leben für Dich und andere? So kommen wir in unserer Arbeit von der großen ontologischen Sinnfrage, die nach dem Sinn des Ganzen fragt, was im Grunde eine philosophische und eine Glaubensfrage ist und dort ihren Platz hat, in den psychologischen Bereich, wo wir persönlich aktiv werden können. Die große Sinnfrage kann der Mensch nicht beantworten, da ist er angewiesen auf philosophische Spekulation, auf persönliche Ahnungen und auf Verkündigungen. Die Religionen geben die Antworten auf diese großen Sinnfragen. Dafür ist der Glaube da.

Religion, Philosophie, Psychologie sind wichtige Gebiete. Welche Bedeutung kommt der Kunst, der Schönheit für ein erfülltes Leben, zu?
Längle: Da gibt es Brücken, die die Kunst baut. Wenn man zum Beispiel die unvollendete Symphonie von Schubert hört, dann reicht das schon in das Metaphysische hinein. Da langen Worte nicht mehr hin. So kann Kunst uns zwar keine Erklärung geben, aber ein Erleben verschaffen, wo wir andocken können an das, was weit über uns hinausreicht.

Wenn jemand am Ende des Lebens Bilanz zieht. Wann war sein Dasein umsonst, wann war es sinnvoll?
Längle: Das ist eine ganz schwierige Frage, die nur persönlich beantwortet werden kann. Jeder Mensch kann jetzt schon Bilanz ziehen und sich fragen: habe ich das Gefühl, mein Leben war sinnvoll oder mit anderen Worten: War es für etwas gut? Was war das Gute, das in meinem Leben geschehen ist, das durch mich in die Welt gekommen ist? Was war das Gute, das ich aus der Welt aufgenommen habe? Diese Frage stellt sich beim nahenden Tod. Sie kann dann auch sehr beunruhigend sein, sodass man sie bewusst gar nicht zulässt. Dann wird man eher ängstlich, nervös, depressiv und kann unter Umständen nicht mehr schlafen. Es ist aber eine Frage, die den Menschen charakterisiert. Etwa 80 % befragter Personen geben an, am Ende des Lebens, in den letzten Wochen bevor sie sterben, dass die Lieben, die sie gelebt haben, das Sinnvolle waren, in Partnerschaft, in Freundschaft, in der Familie und auch zu Gott.

Die Band „Pizzera & Jaus“ äfft in ihrem Lied „Eine ins Leben“ eine erwachsen-spießige Stimme nach, die sagt: „Sie müssen ihrem Leben einen Sinn geben!“ Die Antwort geben die jungen Sänger postwendend: „An Sch… muass I.“ Sind die Kategorien von Sinn nur für die Generation 70 plus?
Längle: (lacht) Sehr gut. Dem Leben einen Sinn geben, das ist wirklich ein „Sch…“! Das kann man nicht. Ich will selber sehen, was jetzt dran ist, was es braucht, was es jetzt Wertvolles und Tolles gibt, das ich tun kann - das ist der Sinn. Der Sinn ist dem Leben in jeder Stunde zu entnehmen, aber nicht dem Leben aufzudrücken. Mein Leben will ja etwas von mir, will mich persönlich und täglich „dabeihaben“ bei dem, was läuft. Jeden Morgen wach ich auf und da gilt es einen Tag zu planen und zu schauen, wer was heute benötigt und wo es Wertvolles und Schönes zu erleben gibt. Das hängt von der Situation ab, in der ich drinnen bin. Ist es ein Wert oder nicht, dass ich zum Beispiel die Schule besuche, ist es gut, dass ich dort meine Freunde treffe usw. Es geht darum, auf dem unmittelbaren Erleben aufzubauen. Das ist nicht Sinn „geben“, sondern das ist Sinn „finden“. Die Jugendlichen spüren ganz genau dieses Doktrinäre von der Kanzel herab, mit dem man sie nur verscheucht und das zu Recht! Die Zeiten sind vorbei: Wir leben nicht mehr in autoritären Strukturen. Wir leben im Dialogischen, im Austausch, auf Augenhöhe. Die Jugend will selber entdecken und finden, was ihr Leben ist, was für sie „dran ist,“ und Anleitung bekommen, wie sie es besser machen kann, nicht einfach glauben und folgen. Das erinnert mich an Frankl, der sagt, das Leben stellt uns Fragen, nicht wir stellen dem Leben fragen.
Ganz genau, da war Frankl sehr weitsichtig. Das ist der Sinn-Horizont, in dem wir stehen.

(aus dem Vorarlberger KirchenBlatt Nr. 12 vom 25. März 2021)

Autor:

KirchenBlatt Redaktion aus Vorarlberg | KirchenBlatt

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