Der Existenzanalytiker Christoph Kolbe über wesentliche Anker des Daseins
Bleib offen für das Geheimnis!

Dr Christoph Kolbe steht in der existenzanalytischen Tradition von Viktor Frankl. Seit 2017 ist der in Hannover arbeitende Psychotherapeut Präsident der internationalen Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse. Seine Beiträge finden sich hier: www.fragen-des-menschseins.de und www.christophkolbe.de 
 | Foto: Christoph Kolbe Creative Commons 3.0
  • Dr Christoph Kolbe steht in der existenzanalytischen Tradition von Viktor Frankl. Seit 2017 ist der in Hannover arbeitende Psychotherapeut Präsident der internationalen Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse. Seine Beiträge finden sich hier: www.fragen-des-menschseins.de und www.christophkolbe.de
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Christoph Kolbe hält am 6. Mai einen Online-Vortrag zum guten Leben in der Herausforderung. Im KirchenBlatt-Interview gibt er vorab existentielle Impulse.

Wolfgang Ölz

Was kann die Existenzanalyse coronageplagten Menschen bringen?
Christoph Kolbe: Sie zeigt, wie es gelingen kann, sich den Herausforderungen, die Corona bedeutet, zu stellen. Vieles hat die Pandemie zum Stillstand gebracht, dies müssen wir aushalten, ohne zu verzweifeln, und uns gegebenenfalls neu ausrichten oder sogar neu orientieren. Wir sind gerade in einer Art Langstreckenmentalität gefragt, unsere Zuversicht zu behalten, neue Perspektiven zu finden und das zu schätzen, was wir an Wertvollem immer noch haben.

Was würde Viktor Frankl, der Begründer der Existenzanalyse, den Menschen der Pandemie raten?
Kolbe: Frankl würde sagen: Das ist eine Herausforderung, die vieles auf den Kopf stellt, was bisher selbstverständlich war, und es gilt, sich dieser neuen Wirklichkeit zu stellen. Und er würde sagen: Schauen Sie auf die Sinnmöglichkeiten, die jetzt in dieser Situation für Ihre Lebensgestaltung noch liegen. Sie müssen sich von Ihren Ängsten und Ihren Befindlichkeiten nicht alles gefallen lassen.

Was hat sich im Jahr 2021 im Vergleich zum - sagen wir - Jahr 1981 geändert?
Kolbe: Die Welt ist sehr zusammengewachsen und überschaubar geworden, ein „globales Dorf“. Alles ist schnell erreichbar. Gleichzeitig ist alles viel vernetzter und damit auch komplexer geworden. Wir haben einen großen Spielraum freier Lebensgestaltung und dabei treffen völlig unterschiedliche Weltanschauungen und Haltungen aufeinander, sodass es anspruchsvoll ist, eine eigene Orientierung zu haben. Außerdem ist alles sehr viel schneller geworden und auf immer höhere Effizienz getrimmt. Es gibt weniger Spielräume, wo man einfach mal verweilen, suchen und entdecken kann. Überall gelten hohe Qualitätsstandards und ein maximaler Lösungsdruck. Dazu kommen noch Digitalisierung und Klimakrise mit ihren bahnbrechenden Veränderungen.

Welche Möglichkeiten gibt es, dass die Menschen in dieser Komplexität und Schnelligkeit Orientierung finden? Was sind die Anker, dass gutes Leben gelingen kann?
Kolbe: Der wesentliche Anker ist der authentische Bezug zu sich selbst und zum Eigenen, nämlich dem, was in einer Situation für den Menschen in seinen Lebens- und Weltbezügen gültig und stimmig ist und was er deshalb verantworten kann. Wir leben in einer Zeit, in der die Verbindlichkeit längst nicht mehr allgemein verbindlich ist. Es gibt nicht mehr DIE Instanz, die die Orientierung vorgibt. Auch gesellschaftliche Gruppen, wie beispielsweise die Kirche, haben für die meisten Menschen diese Autorität verloren.

Auf ihrer Website steht folgender Spruch von Karl Jaspers: „Immer ist der Mensch mehr, als er von sich selbst und ein anderer von ihm wissen kann.“ Ist dieses Mehr nun das Unbewusste, das höhere Selbst, das Gewissen, die Seele oder ist es das Göttliche?
Kolbe:
Mir gefällt dieser hier ausgedrückte Respekt, dass ein Mensch (übrigens auch für sich selbst) immer mehr ist als das, was man sieht und über sich weiß. Es gibt da ein Geheimnis: Nämlich, dass wir im Letzten vielfach nicht begründen können, warum uns etwas bewegt und zu einem Wert wird. Warum wir also diesen Menschen lieben und einen anderen eben nicht. Zentral ist, dass wir offen sind und offen bleiben für das Geheimnis. Das ist auch eine spirituelle Dimension.

Ist für Sie als Psychotherapeut eine Berufung zu einem geistlichen Leben etwas aus der Zeit Gefallenes?
Kolbe: Berufen zu sein heißt, eine Aufgabe oder einen Lebensweg als einen persönlichen Auftrag zu erleben. Das kann es in allen Lebensbereichen geben. Die entscheidende Frage an alle Berufungserlebnisse würde ich darin sehen, das Motiv zu prüfen, woraus sich die Berufung speist. Handelt es sich mehr um eigene, ungelöste, innerpsychische Bedürfnisse, die in den Berufungsauftrag verschoben werden? Dann sollten diese geklärt werden und erst danach wird sich herausstellen, ob es noch eine existenzielle Berufung gibt. Wenn sich nun jemand eingebettet erlebt in größere Zusammenhänge, die mehr sind als er vielleicht sehen und sagen kann, sondern die man dann nur noch glauben kann, dann ist dem mit Respekt zu begegnen.

Zur Veranstaltung
Das Bildungshaus St. Arbogast bietet einen Online-Vortrag mit Christoph Kolbe zum Thema „Wie gelingt gutes Leben in herausfordernden Zeiten?“, Do 6. Mai, 19 bis 21 Uhr
Anmeldung: E willkommen@arbogast.at, T 05523 62501.

(aus dem Vorarlberger KirchenBlatt Nr. 17 vom 29. April 2021)

Autor:

KirchenBlatt Redaktion aus Vorarlberg | KirchenBlatt

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