Interview mit Aleida Assmann zur Ausstellung im Jüdischen Museum Hohenems
Rückfall ins Nationalistische beunruhigt

Die neue Ausstellung des Jüdischen Museums „Die letzten Europäer“ widmet sich der jüdischen Hohenemser Familie Brunner. Den Festvortrag bei der Eröffnung hält die deutsche Anglistin, Ägyptologin und Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, die 2018 gemeinsam mit ihrem Mann Prof. Dr. Jan Assmann den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten hat.

Wolfgang Ölz

Ausgangspunkt für die Ausstellung „Die letzten Europäer“ ist der Nachlass von Carlo Alberto Brunner. Kann das Leben der Hohenemser Familie Brunner exemplarisch für das Schicksal Europas gesehen werden?
Aleida Assmann: An Gedenkorten und Gedenktagen kamen bisher in der Regel Überlebende als Zeugen mit ihrer eigenen Biographie zur Sprache. Es ist dagegen neu, eine ganze Familie über die Generationen hinweg in ihren Hinterlassenschaften zu präsentieren. Diese materiellen Zeugnisse erzählen eine über 100-jährige Geschichte, die an verschiedene Orte und über viele Grenzen führt. Wir erfahren hier nicht nur Einzelheiten über ihre Verfolgungsgeschichte, sondern auch etwas über den wirtschaftlichen Aufschwung im 19. Jahrhundert, zu dem Juden beigetragen haben und über die Ideen der Aufklärung, die sie verbreiteten. Der Blick auf Europa setzt sich aus den verschiedenen Einzelbiographien noch einmal ganz anders zusammen und wird durch die unterschiedlichen Familienmitglieder vielfältig konkret.

Teilen Sie die Einschätzung, dass Europa von einem Rückfall in nationalistische und fremdenfeindliche Ideologien bedroht ist?
Assmann: Diese Einschätzung teile ich und sie beunruhigt mich sehr. Aus diesem Grund habe ich gerade ein Buch über „Die Wiedererfindung der Nation“ geschrieben, in dem ich die liberale, demokratische und diverse Nation gegen ihre Verächter/innen verteidige.

Wie ist es um die deutsche bzw. österreichische Erinnerungskultur hinsichtlich des Holocaust bestellt?
Assmann: Die Erinnerung an den Holocaust hat in Deutschland und Österreich aufgrund der politischen Rahmenbedingungen in der Nachkriegszeit eine unterschiedliche Geschichte, weil in Österreich der kommunistische Widerstand gegen den NS eine wichtige Rolle spielte und die Nation als Ganzes international eine längere „Schonzeit“ hatte. Ich schätze die Bereitschaft zur Erinnerung in der österreichischen Zivilgesellschaft sehr hoch ein, bin mir aber nicht darüber im Klaren, wie stark sie derzeit von den regierenden Parteien mitgetragen wird.

Warum sind die Menschenrechte Teil der Grundwerte Europas? Ist das Flüchtlingslager in Moria auf Lesbos der Beweis dafür, dass es mit den Menschenrechten im vereinten Europa nicht weit her ist? Warum ist die Willkommenskultur gescheitert?
Assmann: Sie haben Recht: Die Menschenrechte gehören zum Fundament der EU und deshalb ist Flüchtlingspolitik jetzt der Stresstest für eben diese Werte. Eine europäische Willkommenskultur hat es nie gegeben, das weiß jeder. Aber ich würde nicht sagen, dass sie in Deutschland oder generell gescheitert ist. Sie ist nur nicht medial präsent. Wir erfahren wenig über die langfristigen und mühsamen Integrationsleistungen und -programme, in denen viele Europäer/innen und ehemalige Migrant/innen arbeiten. Wir erfahren eher, wo es Probleme gibt, und die gibt es zurzeit in erschreckendem Ausmaß.

Welchen Beitrag soll(en) die Kirche(n) für ein geeintes Europa, seine Grundwerte und einen humanen Umgang mit Migrant/innen leisten?
Assmann: Was mir sehr wichtig ist, ist die Tatsache, dass für das Projekt Europa nicht nur seine Organe und Gremien verantwortlich sind, sondern auch seine Kirchen, Städte und NGOs, die sich über die nationalen Grenzen hinweg für einen solidarischen Umgang mit den Migrant/innen einsetzen. «

Die letzten Europäer. Ausstellung im Jüdischen Museum Hohenems
bis 3. Oktober 2021. Geöffnet, Di bis So, 10 bis 17 Uhr,
Eröffnung mit Festvortrag von Prof. Aleida Assmann: So 4. Oktober, 11 Uhr, Salomon
Sulzersaal (ausgebucht). Livestream: www.youtube.com/user/jmhohenems

(aus dem Vorarlberger KirchenBlatt Nr. 40 vom 1. Oktober 2020)

Autor:

KirchenBlatt Redaktion aus Vorarlberg | KirchenBlatt

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