Gemeinderabbiner Schlomo Hofmeister im Interview
Wir Juden gehören einfach zu Europa

 Schlomo Hofmeister: Das Judentum ist eine praktische Religion. | Foto: IKG
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Zunehmender Antisemitismus in Europa und Debatten über Beschneidungen, Schächten und das Tragen der Kippa bringen die Juden Europas zusehends unter Rechtfertigungs-Druck.

Im Interview mit dem SONNTAG erläutert der Wiener Gemeinderabbiner Schlomo Hofmeister die Herausforderungen für die jüdische Gemeinde in Österreich.

Er erinnert an die Notwendigkeit des interreligiösen Dialogs und warum es wichtig ist, dass auch die „Basis“ der Kirchen sich stärker mit dem Judentum auseinandersetzt.

Heute ist der Tag des Judentums zum bußfertigen Gedenken an die jahrhundertelange Geschichte der Vorurteile und Feindseligkeiten zwischen Christen und Juden und zur Entwicklung und Vertiefung des christlich-jüdischen Gesprächs“: So lautet die kürzestmögliche Erklärung für den „Tag des Judentums“.

Die christlichen Kirchen in Österreich begehen seit dem Jahr 2000 alljährlich am 17. Jänner diesen Tag. „Er ist eine wunderbare Einrichtung und ein Geschenk der Kirchen an die jüdische Gemeinschaft, wo sich die Kirchen besonders mit dem Judentum auseinandersetzen“, betont Gemeinderabbiner Schlomo Hofmeister im Gespräch mit dem SONNTAG.

„Jedes Jahr gibt es ein bestimmtes Thema und es wäre wichtig und schön, wenn der Tag des Judentums nicht nur weitergeführt wird, sondern auch in den Gemeinden, in den Pfarren, mit den Gläubigen einen Anlass bietet, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Nicht nur unter Priestern, nicht nur in den Gremien des interreligiösen Austauschs, sondern tatsächlich auch bei den einfachen Gläubigen. Damit gerade auch sie dieses Verständnis für das Judentum entwickeln“, unterstreicht Hofmeister.

  • In vielen Teilen Europas ist ein zunehmender Antisemitismus zu beobachten. Wie kann man gegen diesen Antisemitismus vorgehen?

SCHLOMO HOFMEISTER: Antisemitismus ist eine Herausforderung, die nicht aus dem 20. Jahrhundert stammt, sondern bis in die Antike zurückreicht. Der Hass von Nichtjuden auf das Judentum, auf Jüdinnen und Juden, geht schon in die Römerzeit zurück und auch in die Zeit davor.

Diese historische Wurzel des Antisemitismus kann man nicht einfach nur ausreißen oder eliminieren, indem man sich hinstellt und sagt: Wir kämpfen gegen Antisemitismus. Der vielmals auch in ganz Europa proklamierte Kampf gegen den Antisemitismus darf nicht bei dieser Formel enden.

Man muss prinzipiell Respekt vor dem Anderen fördern, das Anerkennen des Fremden und das Wertschätzen fremder Kulturen, von Menschen, die eine andere Meinung vertreten, eine andere Position haben, Dinge anders tun, so dass die Angst vor dem Anderen nicht mehr existiert.

Politik und Gesellschaft stehen vor der Herausforderung, Toleranz und Respekt vor dem Anderen und vor dem Fremden zu fördern. Und das ist das Einzige, was uns helfen kann, somit auch Antisemitismus zu bekämpfen.

  • Warum ist es bedenklich, wenn Juden überlegen, in manchen Gegenden Europas lieber keine Kippa auf der Straße zu tragen?

Das ist deswegen sehr bedenklich, weil Juden einfach zu Europa gehören. Das Judentum ist die älteste Religion Europas. Es gab Juden in Europa, lange bevor es das Christentum in Europa gab. Wir sind die älteste Religion, die älteste Volksgruppe in Europa, die ihre Tradition bis heute beibehalten hat. Als solche sind wir auch stolz auf die Achtung unserer Traditionen, und auch eine dezidiert jüdische Kopfbedeckung wie die Kippa soll niemandem peinlich sein müssen.

Wer sich verstecken muss, der gehört scheinbar nicht dazu. Daher ist es sehr bedenklich, wenn von politischer Seite geraten wird: Setzt bitte keine Kippa auf, zeigt euch nicht als Juden. Bei Vorfällen wie in Frankreich, in Großbritannien oder auch in skandinavischen Ländern ist die schlimmste Reaktion: Na ja, er hat ja seine Kippa getragen, er war erkenntlich als Jude.

Wenn wir als Juden in Europa nicht mehr erkenntlich sein dürfen, wenn das der Fehler ist, ist das dann nicht eine Täter-Opfer-Umkehr? Dass auf einmal die Schuld darin besteht, dass man anders aussieht? Es ist deshalb sehr besorgniserregend, weil wir hierhergehören, auch wenn wir anders sind.

Es gibt in Europa keine homogene Kultur, es gibt in Europa keine homogene Religion. Vor der Nationalismus-Bewegung des 19. Jahrhunderts war Europa immer geprägt von seiner pluralistischen und multikulturellen Gesellschaft. Wir müssen zu einem modernen Verständnis von Gesellschaft finden, dass es eben individuelle und auch multikulturelle Gesellschaftsteile innerhalb der europäischen Kultur gibt und dass die deswegen nicht fremd sind.

  • Wie geht es Ihnen, wenn Sie in Wien unterwegs sind? Sie sind erkennbar als Jude ...

Ich bin sehr oft Situationen ausgesetzt, wo ich mir denke, ja, es ist bedenklich. Nicht, dass ich unbedingt physische Angst hätte, ich fühle mich nicht körperlich bedroht, aber doch verbal. Und natürlich macht man sich Sorgen. Woher kommen diese Worte? Welchen Gedankenwelten entspringen diese Worte? Beschimpft zu werden als „Sau-Jude“ oder Kommentare hinterhergerufen zu bekommen wie: „Ist das Gas ausgegangen?“ Das sind so Floskeln und Phrasen, die sehr oft kommen. Und warum haben so viele Menschen die gleichen Phrasen auf der Zunge? Das kann nur sein, dass die irgendwo stehen, irgendwo kursieren. Und das ist symptomatisch.

Wenn mir gegenüber jemand so etwas zum Ausdruck bringt und das passiert mehrmals die Woche, dann wird das sicherlich nur die Spitze des Eisbergs sein und das macht mir mehr Sorgen als dieser Idiot, der mich jetzt hier beschimpft oder beleidigen möchte auf der Straße. Die verbalen Attacken in Wien, aber auch in den Bundesländern, gehören zur Tagesordnung und die machen mir Sorge.

  • Europaweit gerät auch die Religionsfreiheit immer stärker unter Druck. Da gibt es in manchen Ländern Debatten über die Beschneidung von Buben oder die Diskussionen um das Schächten. Was kann dagegen unternommen werden?

Bei der Religionsfreiheit haben wir das Problem, dass jeder was anderes darunter versteht.

Wenn in den Grundrechten und in der Europäischen Menschenrechtskonvention von Religionsfreiheit die Rede ist, die natürlich jeder sofort unterschreibt, verstehen viele aus der christlichen Perspektive heraus die Freiheit zu glauben. Die Freiheit, die weltanschauliche, die religiöse Glaubensvorstellung frei wählen zu dürfen, in seinem Glauben frei zu sein, ist ein Recht, das ich jedem sehr leicht geben kann.

Das Judentum lebt aber von der religiösen Praxis, und Religionsfreiheit wird nicht von allen in der Politik als Freiheit der religiösen Praxis verstanden. Wir sprechen im Judentum auch nicht von einem gläubigen Juden, sondern von einem praktizierenden Juden. Denn das Judentum ist eine praktische Religion.

Wir haben religiöse Praktiken von morgens bis abends, der dreimal tägliche Gang in die Synagoge, die Speisevorschriften, viele Vorschriften um das Familienleben herum. Dinge, die in der christlichen Mehrheitskultur und Gesellschaft als profan verstanden werden, haben im Judentum wie auch im Islam einen religiösen Aspekt und auch eine religiöse Vorschrift hinter sich. Und diese auch leben zu können, diese auch umsetzen zu können, bedeutet Religionsfreiheit für uns. Und das wird in der säkularen Mehrheitsgesellschaft mit christlichem Hintergrund oft nicht verstanden und nicht respektiert.

  • Welche Chancen sehen Sie im interreligiösen Dialog?

Der interreligiöse Dialog ist sehr wichtig, um Vorurteile abzubauen, Missverständnisse zu klären. Denn letzten Endes, abgesehen von der religiösen Praxis und einigen vielleicht essentiellen, aber nicht unbedingt im gesellschaftlichen Miteinander relevanten theologischen Punkten, sind wir uns doch sehr einig.

Wir haben hier in Österreich durch die anerkannten Religionsgesellschaften und Kirchen eine Gruppe, die eine gesellschaftliche Anerkennung auch von Seiten der Politik genießt, dass wir als Religionen in den Bereichen, wo wir uns einig sind, zusammenhalten, zusammenstehen und uns gegenseitig unterstützen. Die Unterstützung der katholischen Kirche, insbesondere in der Beschneidungsdebatte 2012, war essentiell dafür, dass wir hier in Österreich diese Debatte nicht auf die gleiche Art und Weise geführt haben wie in Frankreich oder in Deutschland, wo diese Unterstützung, diese Solidarität nicht in gleicher Art und Weise gegeben wurde.

Wir sind glücklich, dass wir in Österreich dieses Miteinander der Religionsgesellschaften und Kirchen haben.

  • Was ist im interreligiösen Dialog noch zu tun?

Mit der Erklärung „Nostra Aetate“ des Zweiten Vatikanischen Konzils hat die katholische Kirche einen Quantensprung gemacht. Aber diesen dann auch in aller Konsequenz umzusetzen, auch in der Praxis, auch im Verstehen, im Verständnis der Kirchenbesucher und der Mehrheitsgesellschaft, die sich ja der katholischen Kirche in Österreich zugehörig fühlt, ist noch ein weiter Schritt.

Es geht beim interreligiösen Dialog nicht um Gleichmacherei. Sondern es geht darum, die Gemeinsamkeiten an den richtigen Stellen bewusst zu machen, aber auch die Unterschiede zu zeigen und zu respektieren.

Autor:

Stefan Kronthaler aus Wien & NÖ-Ost | Der SONNTAG

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