Auf ein Wort
Am Bürgersteig

Neulich auf dem Weg zum Bahnhof. Auf dem Bürgersteig begegnete mir an diesem kalten Morgen ein älterer Mann mit gepflegtem grauen Bart und runder Brille. Vielleicht war er ein Perser, vielleicht ein Türke. Unsere Blicke trafen sich. Die Sonne, die gerade aufgegangen war, schien ihm ins Gesicht. Seine Augen waren freundlich, aber gleichzeitig auch auf eine besondere Weise melancholisch, fast traurig.

Unmittelbar durchfuhr mich der Gedanke, dass dieses Gesicht Bände spricht. Was haben diese Augen schon alles gesehen? Vielleicht ist er als Geflüchteter zu uns gekommen? Lebt er mit seiner Frau hier? Wo sind seine Kinder? Welche Trauer und welche Freude hat der fremde Mann schon erlebt? Welche Tränen haben seine Augen bereits geweint, wie viel Lachen kam schon über seine Lippen?

Jedes Leben ist ein Geheimnis. Auch wenn ich den Mann am Bürgersteig nicht kannte und ihn wohl nie mehr wiedersehe: Ich ­fühlte mich ihm für einen Augenblick verbunden. Er wandelt auf derselben Erde, er ist ein Mensch wie ich, nur reicher an Lebenserfahrung. Ich kenne seine Geschichte nicht, ob er Gutes getan oder Schlechtes erlebt hat. Ich weiß aber: Die Sonne scheint für ihn ­genauso wie für mich.

(KIrchenBlatt Nr. 4 vom 23. Jänner 2020)

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