Durchkreuzt | Fastenserie 2020 | Teil 1
Verrückt: Die Lieblinge Gottes

Der heilige Franziskus steigt bei den Kapuzinern in Frankfurt am Main vom Podest herunter. 
 | Foto: Foto: Br. Paulus Terwitte, OFMCap.
  • Der heilige Franziskus steigt bei den Kapuzinern in Frankfurt am Main vom Podest herunter.
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Durchkreuzt. Über den Umgang mit durchkreuzten Lebensplanungen.
Pater Martin Werlen, OSB
Kloster Einsiedeln

Glaube ist Leben. Sobald wir das entdecken und erfahren, wird es spannend. Sogar unsere durchkreuzten Lebensplanungen sehen plötzlich überraschend anders aus. Miteinander wollen wir uns in diesen Tagen der Vorbereitung auf das Osterfest den Erfahrungen der Finsternis stellen und – hoffentlich – dahinter das Licht der Auferstehung entdecken.

Unser Gott ist ein Gott der Überraschungen. Wer in der Heiligen Schrift liest, wird nicht um diese Feststellung herumkommen. Unser Gott bewegt, reißt heraus aus den gewohnten Bahnen. Wer den Glauben wagt, dessen Vorstellungen werden verrückt. Der heilige Benedikt ist überzeugt: „Wer im Glauben voranschreitet, dem weitet sich das Herz.“ Glaubende haben ein weites Herz.
Viele Menschen haben leider ein anderes Bild von Glaubenden, von Glaubensgemeinschaften, von Kirche. Es heißt für sie: festgefahren sein, es bleibt alles beim Alten, zurückgeblieben sein, alles ist klar.
Diese beiden Erfahrungen stehen diametral gegeneinander. Wie ist das möglich? Ein wacher Blick in die Geschichte der Kirche zeigt: Vieles in der Kirche, das mit dem Argument „Tradition“ verteidigt wird, ist in der Tat nicht etwas uns Heiliges, sondern schlicht und einfach Zeitgeist früherer Jahrhunderte. „Glauben“ ist dann nicht so sehr engagiertes und vertrauensvolles Leben im Heute, sondern vor allem ängstlich besorgte Denkmalpflege der Vergangenheit.

Glauben neu entdecken. Wir haben das Glück, in einer Zeit zu leben, in der wir herausgefordert sind, den Glauben neu zu entdecken. Da berührt das Wort des Propheten Jesaja: „Siehe, nun mache ich etwas Neues. Schon sprießt es, merkt ihr es nicht? Ja, ich lege einen Weg an durch die Wüste und Flüsse durchs Ödland“ (Jes 43,19). Wir müssen also nicht einen neuen Glauben erfinden, sondern wir dürfen den uns geschenkten Glauben neu entdecken.

Dazu hat Papst Franziskus in den vergangenen sieben Jahren viele Impulse gegeben. Das Schreiben „Evangelii gaudium“ („Die Freude des Evangeliums“) ist gewissermaßen die Wegbegleitung dazu. Es lohnt sich, allein oder – noch besser – miteinander damit unterwegs zu sein. Es ist eine Herausforderung und eine Ermutigung für kirchliche Insider, aber auch für all jene, die sich verabschiedet haben. Ein wichtiger Schritt auf dem Pilgerweg in den vergangenen Jahren war das „Jahr der Barmherzigkeit“. Vielen ist dabei aufgegangen, was über Jahrhunderte zu kurz gekommen ist.
Dieses Jahr hat Dynamik in die Kirche gebracht. Und doch: Der Widerstand bleibt groß – von kleinen Kreisen. Eine große kirchliche Gestalt, tief verankert im Wort Gottes, hat vor Jahren ein fundamentales Problem klar angesprochen. Papst Franziskus hat diese Einsicht in seiner Ansprache vor Weihnachten 2019 an die Kurie aufgenommen: „In seinem letzten Interview wenige Tage vor seinem Tod sprach Kardinal Martini Worte, die uns nachdenken lassen: ‚Die Kirche ist zweihundert Jahre lang stehen geblieben. Warum bewegt sie sich nicht? Haben wir Angst? Angst statt Mut? Wo doch der Glaube das Fundament der Kirche ist. Der Glaube, das Vertrauen, der Mut. […] Nur die Liebe überwindet die Müdigkeit.‘“ Es ist nicht der Glaube, der bremst, sondern der Mangel an Glauben.

Wie weiter? Papst Benedikt XVI. hat auf seiner Deutschlandreise im Jahre 2011 einen Begriff geprägt, der als Schlüssel für das Wirken seines Nachfolgers betrachtet werden könnte: „Um so mehr ist es wieder an der Zeit, die wahre Entweltlichung zu finden, die Weltlichkeit der Kirche beherzt abzulegen. Das heißt natürlich nicht, sich aus der Welt zurückzuziehen, sondern das Gegenteil.“
Tatsächlich: Es braucht Entweltlichung der Kirche, Abschied vom Zeitgeist früherer Jahrhunderte, welcher der Verkündigung des Evangeliums heute im Wege steht. Geprägt von der langen Zeit, in der die Kirche privilegiert war, hat sie sich mit den Mächtigen dieser Welt verbündet. Dieser Zeitgeist ist festgemauert. So feiern wir zum Beispiel Weihnachten in Kirchen-Palästen – die Geburt dessen, der die Solidarität mit den Ärmsten und Verachtetsten gesucht hat. Hier ist Entweltlichung gefordert.
Die Alternative zum Vertrauten ist also nicht Zeitgeist, sondern Evangelisierung. Es braucht eine Evangelisierung der bisherigen Strukturen und Gewohnheiten, die für Gott und den Menschen offensichtlich Hindernisse sind. Jede echte Reform in der Kirche führt näher zu Gott und zu den Menschen.

"Wir merken plötzlich, dass etwas nicht stimmt, wenn wir die Heiligen auf Podeste stellen.
Sie selbst wollen gewiss gerade das nicht.

Die Armen. Heute entdecken wir neu, wer die Lieblinge Gottes sind. Das geht uns auf, wenn das Wort Brot wird, wozu die Kirche im Zweiten Vatikanischen Konzil wieder zurückgefunden hat. Die Kirche kommt nicht um die Option für die Armen herum, will sie ihrer Sendung treu bleiben. Die Armut hat verschiedene Gesichter – auch in unserer nächsten Umgebung. Auf diesem Weg entdecken wir auch die Heiligen neu. Da merken wir plötzlich, dass etwas nicht stimmt, wenn wir sie auf Podeste stellen. Sie selbst wollten gewiss gerade das nicht. Die Herren dieser Welt stellen sich auf ein Podest oder lassen sich auf ein Podest stellen.
Dort oben haben die Heiligen nicht mehr viel mit uns zu tun. Vielleicht schauen wir noch zu ihnen hinauf, aber vom Sockel reißen sie uns nicht. Wir sollten sie alle von den Podesten herunterholen, auf die wir sie gestellt haben. Das wäre wahre Entweltlichung. Nur einen Heiligen dürfen wir oben lassen – und den feiern wir leider nicht einmal, obwohl er von Jesus selbst heiliggesprochen wurde. Es ist der Verbrecher am Kreuz, der das Wort Jesu hört: „Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein“ (Lk 23,43).
Wenn wir die Heiligen von den Sockeln herunternehmen, hören wir plötzlich ihre Botschaften, die seit Jahrhunderten überhört wurden. Da stehen nicht irgendwelche Gesetze und Leistungen im Mittelpunkt, sondern die Liebe – Gottes Liebe.

Wir. Jesus will auch heute zu den Menschen. Er sucht besonders jene, die am Rande der Gesellschaft stehen. Diesen Weg wollen wir als Getaufte in der Nachfolge Jesu Christi heute neu wagen. Und so stehen plötzlich diejenigen im Mittelpunkt, die lange verachtet wurden, angeklagt und ausgeschlossen, deren Pläne durchkreuzt sind: die Lieblinge Gottes. Ist das nicht verrückt?

Zum Autor
Seit 1983 lebt Pater Martin Werlen als Mönch im Benediktinerkloster Einsiedeln (Schweiz). Der Walliser studierte Philosophie, Theologie und Psychologie in der Schweiz, in den USA und in Italien. Von 2001 bis 2013 war er Abt der Klöster Einsiedeln und Fahr sowie Mitglied der Schweizer Bischofskonferenz. Ab Mitte August 2020 wird er die Propstei St. Gerold in Vorarlberg leiten, die zum Kloster Einsiedeln gehört.
Pater Martin Werlen hat mehrere Bücher geschrieben, die weit über die Kirchengrenzen hinaus zu Bestsellern wurden. Er ist ein gern gehörter Referent in kirchlichen und weltlichen Kreisen. Geschätzt wird seine immer wieder überraschende Weise, wie er anstehende Fragen angeht.
Er ist ein aktiver Nutzer von Twitter unter @MoenchMartin.

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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