Im Augenblick | Teil 05
Seine Bewegungsfreiheit ist auch meine Freiheit

Foto: Gerd Neuhold, Sonntagsblatt

Ich lass dir die Vorfahrt“, sagte Gertraud Prietl zu ihrem Mann Uli (Ulrich) im März 2015 beim Schifahren. „Für uns war es üblich, dass einer dem anderen die Vorfahrt gab. Ich bin froh, dass ich zuerst gefahren bin, hat Uli mir später gesagt. Das hat mir wie vieles andere klar gemacht, dass zwischen uns reine Liebe ist. Wenn ich zuerst gefahren wäre, wäre mir das vielleicht passiert.“ Ulrich Prietl kollidierte mit einem anderen Schifahrer und fuhr in ein Schild. Die Folgen: Bruch der Wirbelsäule (kompletter Querschnitt) auf der Höhe des fünften Brustwirbels, Serienrippenbrüche, massive Lungenverletzungen.

Gertraud Prietl versucht die letzten eineinhalb Jahre in Worte zu fassen. Auf einem Zettel stehen die ersten Versuche ihres Mannes, sich zu artikulieren. Ein Gekracksel. „Ich hab’ gemerkt, dass er wissen wollte, wo er ist: auf der Intensivstation in Klagenfurt.“ Die Versuche, Kontakt aufzunehmen, wurden besser, die Schrift klarer. „Mein Mann war mit sich und der Erfahrung des Unfalls beschäftigt. Anfangs war ich nicht sicher, ob er überleben würde.“

Nicht nur damals, sondern schon viel früher konnten sie auf die Ausbildung in Gestaltpädagogik zurückgreifen, die sie beide absolviert hatten. „Dadurch hatten wir eine gemeinsame Sprache, eine Art, uns auszutauschen. Außerdem war mir die Leiterin der damaligen Ausbildung eine große Hilfe, die ich schon in der ersten Nacht nach dem Unfall anrief.“ Ihr gestand sie, was sie wohl sonst verschwiegen hätte, was aber eine normale Reaktion in dieser Situation ist. „Ich hatte im ersten Moment eine komplette Wut, hinter der große Angst stand.“

Blitzlichter aus dem Gespräch zeigen Lebendigkeit und Kraft der 47-Jährigen. „Baust du mir einen Treppenlift ein, hat Uli mich einmal gefragt, und ich hab gesagt, nein, du kriegst einen echten Lift.“ So ist es auch gekommen. „Ich wusste zuerst nicht, ob wir hier weiter wohnen würden, weil nichts behindertengerecht war. Mein Mann und ich haben so viel Zeit und Geld in dieses Haus gesteckt. Er hat so viel selbst gemacht, dass ich mir für ihn nichts anderes vorstellen konnte.“

Ulrich Prietl, Zimmerermeister und Lehrer an der Berufsschule Murau, ist mit diesem Platz verbunden. „Er wollte auf jeden Fall wieder arbeiten, und die Berufsschule ist mit dem Rollstuhl selbstständig erreichbar.“ Also begann Gertraud Prietl mit der ihr eigenen Konsequenz, das Riesenprojekt zu stemmen. Und ist heute noch überrascht von den vielen Angeboten, die ihr von überall entgegenkamen. „Das ging von Kochen, Putzen, finanzieller Unterstützung bis dahin, dass eine Frau anbot, mir beim Ausfüllen der Formulare zu helfen. Ein Bekannter machte das ganze Bad, ich musste nur noch die Fliesen aussuchen.“

Noch vor dem Ende des Schuljahrs begann Ulrich Prietl wieder zu unterrichten, weil er ja sonst keine Ferien hat. „Jetzt bist du auf meiner Ebene, sonst musste ich immer zu dir aufschauen“, sagt Gertraud lachend zu ihrem Mann. Es stimmt, im Rollstuhl ist er nur wenig kleiner als sie. „Ich durfte in dieser Ehe immer wachsen“, sagt sie.

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SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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