Plädoyer für die Zukunft | Frage 5
Wo brauchen wir Grenzen?

Grenzerfahrungen sind im kollektiven Gedächtnis unserer Steiermark tief verwurzelt. Wie kann Kirche Heimat für möglichst viele geben? Und wie gelingt es ihr, Grenzen weniger zu ziehen als vielmehr auch zu öffnen? – Im Bild: Wegen des Corona-Virus zeitweilig geschlossene Grenze zu Slowenien in St. Anna am Aigen. | Foto: Scheucher
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  • Grenzerfahrungen sind im kollektiven Gedächtnis unserer Steiermark tief verwurzelt. Wie kann Kirche Heimat für möglichst viele geben? Und wie gelingt es ihr, Grenzen weniger zu ziehen als vielmehr auch zu öffnen? – Im Bild: Wegen des Corona-Virus zeitweilig geschlossene Grenze zu Slowenien in St. Anna am Aigen.
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Grenzen, unser Los!

In acht Plädoyers deutet Hans Putzer zeitdiagnostisch diese Fragen ein weiteres Mal. Er war zwischen 2009 und 2012 Präsident der Katholischen Aktion Steiermark und von 2010 bis 2018 Direktor im Bildungshaus Mariatrost. Seit 2018 arbeitet er im Bürgermeisteramt der Stadt Graz und ist unter anderem für die Bereiche Menschenrechte, Religionsgemeinschaften und Bürgerbeteiligung zuständig.

Von allen acht Fragen, die dieser Serie zugrunde liegen, scheint mir auf den ersten Blick keine einfacher zu beantworten als diese: „Wo brauchen wir Grenzen?“ Überall dort, wo wir Gefahr laufen, Gleichheit mit Gerechtigkeit zu verwechseln, so mein erster Gedanke. Selbst unsere sehr auf Egalität ausgerichtete Verfassung hält unmissverständlich fest, dass „Gleiches gleich und Ungleiches ungleich“ zu behandeln ist. Rechtsphilosophisch ist dieser Unterschied überhaupt erst die Voraussetzung für die Verwirklichung eines menschenrechtskonformen Gleichheitsgrundsatzes. Und auch das Prinzip der katholischen Soziallehre, das Bild vom Menschen als individuelle, unverwechselbare Persönlichkeit („Personsprinzip“), würde seinen Sinn verlieren, wenn es uns Menschen nicht in unserer Ungleichheit und somit auch Abgrenzbarkeit radikal ernst nähme.
„Einspruch“, höre ich schon hier bei einigen, die noch nicht mit dem Lesen aufgehört haben. Erstens: Diese Fragestellung vom Diözesanjubiläum stand doch deutlich im Bann der Flüchtlingsbewegungen seit 2015 und ist doch viel mehr als ein rechtstheoretisches Gedankenspiel. Zweitens: Kennt nicht gerade auch die katholische Soziallehre das Prinzip der „Option für die Armen“? Und drittens: Wenn es bei Gott keine Grenzen gibt, somit alles möglich ist – „mit meinem Gott überspringe ich Mauern“ heißt es im Psalm 18 –, dann sind doch auch Grenzen erst recht zum Überwinden da! Auch der Dichter Novalis, der von allen deutschen Romantikern in den christlichen Glauben wahrscheinlich am tiefsten eingedrungen ist, hat ja geschrieben: „Alle Schranken sind bloß des Übersteigens wegen da.“

Einspruch abgelehnt!
Jede dieser drei Einwendungen hat was für sich, spricht Richtiges und Wichtiges an, bestätigt aber letztlich die Grundannahme,
dass Grenzen uns sinnvollerweise daran hindern, Gleichheit mit Gerechtigkeit zu verwechseln; am einfachsten nachvollziehbar bei der „Option für die Armen“. Das ist ja die Herstellung von Gerechtigkeit durch Ungleichheit schlechthin.
Mit dem früheren deutschen Verfassungsrichter Udo di Fabio ist zum ersten Einwand festzuhalten, dass die Kontrolle über das Staatsgebiet, die Kontrolle über die Zusammensetzung der Bevölkerung und das Vorhandensein einer einheitlichen Staatsgewalt die drei Grundbedingungen für jedes Staatswesen sind. Nun kann man mehr als berechtigt darüber diskutieren, ob wir angesichts des Elends in der Welt unsere Grenzen zu früh, zu spät oder vielleicht auch zum richtigen Zeitpunkt schließen, aber dass es hier eine Grenze im doppelten Wortsinn geben muss, kann wohl kaum bestritten werden.
Und wie ist das mit Gott? Es gibt ja das schöne Gedankenspiel, ob ein allmächtiger Gott einen so schweren Stein erschaffen kann, dass er selbst nicht mehr in der Lage ist, diesen aufzuheben. Und wie ist das dann mit seiner „Allmächtigkeit“? Ja, wir können mit Gott Mauern überspringen, wir können im Vertrauen auf ihn Schranken übersteigen, aber um diesen so gewonnenen neuen Ort zu verstehen, brauchen wir die Grenze zum Erkennen der Differenz. Mein fünftes Plädoyer: Werden wir auch als Kirche wieder verbindlicher. Zeigen wir der Welt auch öfter einmal unsere Grenzen!

Acht Fragen
Jubiläen zu begehen hat nur Sinn, wenn zugleich „nach vorne“ gedacht wird. So hat auch unsere Diözese anlässlich des 800-Jahr-Jubiläums 2018 in einem breiten Diskurs acht Fragen unter das Motto „Glauben wir an unsere Zukunft?“ gestellt.
>Wollen wir noch selber denken?
>Ist Armut unfair?
>Was würdest Du morgen zurücklassen?
>Rettet Schönheit die Welt?
>Wo brauchen wir Grenzen?
>Wer hat die richtige Religion?
>Muss ich heute Angst haben?
>Wie viel Macht hat eine schwache Kirche?

Die Serie wird begleitet durch die Online-Kolumne „Mitten im Leben“, in der Menschen aus ihrem Alltag im Zusammenspiel mit der jeweiligen Frage berichten. – www.katholische-kirche-steiermark.at/mittenimleben

Grenzerfahrungen sind im kollektiven Gedächtnis unserer Steiermark tief verwurzelt. Wie kann Kirche Heimat für möglichst viele geben? Und wie gelingt es ihr, Grenzen weniger zu ziehen als vielmehr auch zu öffnen? – Im Bild: Wegen des Corona-Virus zeitweilig geschlossene Grenze zu Slowenien in St. Anna am Aigen. | Foto: Scheucher
Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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