Lebensspuren - Fastenserie 2018 | Teil 06
Ganz schön einsam

Einsamkeit gibt es auch in den Herzen der Städte. | Foto: Stockfoto/Sonate

Welche Bilder tauchen in uns auf, wenn wir das Wort „Wüste“ hören? Vielleicht denken wir an eine unendlich weite Dünenlandschaft oder an unermesslich ausgedehnte Steinwüsten.

Landschaften, in denen so gut wie niemand lebt, werden zum Gegenbild unserer dicht besiedelten Städte und des engen Gedränges der Menschen in Stadien, auf Plätzen, in der U-Bahn. Weil man in der Wüste nur wenige Menschen findet, wird sie zum Inbegriff der Einsamkeit.

Doch Einsamkeit begegnet uns nicht nur in den menschenleeren Gebieten der Sahara oder des Sinai, sondern ebenso im Herzen unserer Städte. Jeder Mensch kennt Stunden tiefster Einsamkeit. Und diese entsteht und wächst als Kehrseite unserer Einmaligkeit.

Einmaligkeit bringt Einsamkeit mit sich

Jeder Mensch ist ein Original und so einmalig wie sein Fingerabdruck. Wir sind keine Kopien und Klone, sondern originell und einzigartig. Jede Person wird von bestimmten Eigenschaften geprägt und durch ihre Geschichte geformt. Jeder und jede kennt aber auch eine Verletzungsgeschichte, die sich in einer ganz individuellen Empfindsamkeit niederschlägt. Daher sieht und erlebt jeder Mensch die Welt in einer ganz spezifischen Weise.

Diese wunderbare Einmaligkeit bringt die Einsamkeit mit sich. Denn es gibt zum Beispiel Eigenheiten, die nur mir eigentümlich sind und die auf andere fremd und befremdlich wirken. Was ich erlebe, wie ich empfinde, meine Ideen und Träume, all das ist so besonders, dass ich vieles davon mit anderen nicht teilen kann. Wir verstehen andere immer nur bedingt und begrenzt und oft gar nicht. So stolz ich auf meine Einmaligkeit Wert lege, so schmerzlich kann bisweilen die Einsamkeit nagen.

Halt und Heimat

Die Entwicklung unserer modernen Gesellschaft scheint die Einsamkeit vieler Menschen noch zu mehren. Dies hängt mit der ausgeprägten Individualisierung zusammen. Verschiedenste Lebensformen, Stile und Berufsmöglichkeiten fächern unsere Gesellschaft weiter auf. Soziale Zwänge haben abgenommen, und man löst sich leichter aus überkommenen Strukturen und Gewohnheiten. Damit lösen sich aber auch soziale Netze auf, die Menschen gehalten und ihnen einen festen Platz zugewiesen haben. Der Schutzraum des sozialen Milieus, etwa eines Berufs oder einer Rolle, wird löchrig und wärmt nicht mehr. Jetzt muss man sich selber stärker um einen Ort in der Gesellschaft kümmern, der einem Halt und Heimat gibt. Auch die Strukturen von Familie und Verwandtschaft tragen nicht mehr so stark. Zerbrochene Beziehungen oder die beruflich geforderte Mobilität machen das soziale Netz noch rissiger. Andere Netze – Internet, Kommunikationsmedien – werden in Anspruch genommen, um neue Beziehungen zu knüpfen.

Der große Boom an Netzwerken macht deutlich, wie mächtig sich in einer individualisierten Gesellschaft das Bedürfnis nach Gemeinschaft zu Wort meldet und dass es Vernetzungen braucht, um Menschen in ihrer Vereinsamung aufzufangen. Ohne ihr Handy fühlen sich viele Menschen abge­nabelt vom Rest der Welt. Ein junger Mann, der mich zu einem Praktikum ins Gefängnis begleitete und an der Pforte sein Handy abgeben musste, sagte spontan: „Ich fühle mich jetzt ganz nackt.“ Man braucht die ständig eintreffenden elektronischen Signale, die einen beruhigen: „Jemand denkt an mich. Ich bin noch nicht vergessen. Ich bin jemand.“

Die Bibel erzählt von Menschen, die in der Wüste entdecken konnten, dass sie im Tiefsten nicht allein, sondern von Gott gekannt und geliebt sind. Ein Beispiel: Abrahams Frau Sara fürchtet ihre Magd Hagar als Nebenbuhlerin, weil diese von Abraham schwanger geworden ist und sich daher Sara überlegen fühlt. Als Reaktion darauf jagt Sara ihre Magd in die Wüste. Hagar ist verzweifelt und dem Tod nah. Doch dann hört sie, wie der Engel Gottes sie anspricht und ihr Mut macht, wieder zu Abraham und Sara zurückzukehren.

Gott, „der nach mir schaut“

Die zentrale Erfahrung besteht darin, dass sie in ihrer Einsamkeit und Not spüren kann, dass sie von Gott nicht vergessen ist. Sie nennt Gott „denjenigen, der nach mir schaut“. Und dieser erste Gottesname in der Bibel wird in Verbindung gebracht mit einem Brunnen, dem sie den Namen „el-roï“ gibt: Die Ahnung, dass Gott sie liebevoll anschaut, wird zur Quelle neuer Lebenskraft.

Dort, wo Menschen ihre Einsamkeit spüren und annehmen, können sie zugleich eine tiefere Form von Angenommensein und Verbundenheit erleben: Ich bin angewiesen auf ein größeres Du. Ich ersehne eine umfassende Liebe, wie sie Menschen gar nicht geben können. Diese Sehnsucht nach innerer Heimat, nach Verstandenwerden und Gemeinschaft wird zum Türöffner, der Menschen ahnen lässt, dass Gott selbst und Gott allein diesen Durst nach Liebe stillen kann.

Wo Menschen ihre Einsamkeit spüren und annehmen, können sie zugleich eine tiefere Form von Angenommensein und Verbundenheit erleben: Ich bin angewiesen auf ein größeres Du.

Andreas Knapp

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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