Mutworte - Anna Schreiber
Was darf ich fühlen?

Foto: privat

Der Kontakt mit meinem 65-jährigen Vater ist für mich (34) oft anstrengend. Ich würde manchmal am liebsten bald wieder gehen, wenn ich ihn besuche, oder den Hörer auflegen, wenn wir telefonieren. Danach habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich so etwas doch nicht fühlen darf.
Brauchen unsere Gefühle eine Berechtigung, um da sein zu dürfen? Meine Antwort: Nein. Gefühle sind da. Das allein ist ihre Daseinsberechtigung. Die Frage „Darf ich fühlen, was ich fühle?“ bringt uns nicht wesentlich weiter. Wir können Gefühle verdrängen, vergraben, uns ablenken, gar betäuben, um sie nicht wahrzunehmen: Einfach „weg“ gehen sie nicht. Sogar wenn wir sie „vergessen“, kommen sie bei Gelegenheit leicht wieder zum Vorschein.
Klarheit kann uns aus zwei anderen Fragen erwachsen: Wie gehe ich mit meinen Gefühlen um? Und: Wo kommen meine Gefühle her? Konkret: Wie ernst nehmen Sie Ihre Wahrnehmung, dass etwas am Zusammensein mit Ihrem Vater für Sie unangenehm ist? Wäre es angenehmer, wenn Sie den Kontakt reduzieren, Telefonate oder Besuche früher beenden würden? Wie würden Sie sich wünschen, wie Ihre (später erwachsenen) Kinder mit so einem Gefühl Ihnen gegenüber umgehen? Diese Fragen lassen mögliche Handlungsräume entstehen.
Die andere Frage mag ein tieferes Verstehen von uns selbst eröffnen. Etwa: Kenne ich dieses Gefühl auch aus anderen Kontakten? Sich selbst besser verstehen, mit den eigenen Gefühlen immer besser umgehen zu können, macht das eigene Leben nicht anders, aber leichter. Deutlich leichter.

Dipl.-Psych. Anna Schreiber

ist Psychotherapeutin in Karlsruhe.

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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