Leben leben lassen | Teil 05
Unsere Leute brauchen Zeit

Andrea findet es normal, beim Kochen zu helfen. | Foto: Riedrich

 

„Können Sie sich vorstellen, drei Stunden bloß zum Aufstehen, Frühstücken und Zähneputzen zu brauchen?“, fragt Maria Riedrich. Was für so manchen wie eine reine Übertreibung klingt, ist für nicht wenige unserer Gesellschaft aber blanke Realität.

Aus Solidarität zu Menschen mit Handicaps gibt es daher in der Steiermark neuerdings einen Rechtsanspruch auf Behinderten-Betreuung: „Wohnassistenz“ und „Familienentlastungsdienst“ nennt das Maria Riedrich, die Einsatzleiterin von MOHI, einer mobilen Betreuungseinrichtung der Caritas für Menschen mit Behinderung. Ihr Ziel: Behinderten zu ermöglichen, bei ihren Familien oder allein wohnen und somit normal in der Gesellschaft leben zu können. „Familien sind durchaus gewillt, mit ihren behinderten Angehörigen zu leben. Das geht aber oft über ihre Grenzen. Wenn sie dann entlastet werden, haben sie wieder mehr Kraft und Freude“, betont Riedrich und fügt hinzu: Vor allem für allein erziehende Mütter ist dieser Dienst wertvoll, da er den Frauen ermöglicht, arbeiten gehen zu können. „Viele von ihnen kämpfen, bis sie ihre Kräfte aufgebraucht haben“, stellt Riedrich fest, die „auffallend viele“ allein erziehende Frauen mit behinderten Kindern kennt: „Beziehungen mit Behinderten sind nämlich höher belastet, und viele gehen deshalb in Brüche.“

Die Kluft zwischen behinderten und nicht behinderten Menschen sei in den letzten Jahren kleiner geworden, betont sie – von Gleichstellung sei aber keine Rede: „Ich finde es schlimm, wenn Behinderte oder ihre Familienangehörigen als Bittsteller kommen müssen. Unser Service soll doch eine Solidarität der Gesellschaft sein.“

Auch darüber hinaus gibt es zahlreiche Hinweise dafür, dass behinderte Menschen nach wie vor ausgegrenzt sind: „Du bist als Behinderter ständig auf andere angewiesen, obwohl das nicht immer so sein müsste“, betont Hermenegild Luttenberger vom „Team Schmetterling“, das Freizeitaktivitäten für behinderte Menschen zwischen 15 und 65 Jahren organisiert. Beim Bau von öffentlichen Verkehrsmitteln oder Gebäuden denke man nach wie vor zu wenig an Menschen mit Handicaps, sagt sie und fügt hinzu: „Leute akzeptieren Behinderte mittlerweile durchwegs, haben aber keine Zeit, sich mit ihnen auseinander zu setzen. Dabei brauchen unsere Leute Zeit – alle werden jedoch immer gleich unrund.“

Doris Schimpl von „Die Brücke“, einem Kommunikationszent-rum zwischen Behinderten und Nichtbehinderten, mahnt andererseits, Behinderten nur dann Hilfestellungen zu geben, wenn sie das auch wollen. Nicht selten passiere es, dass Rollstuhlfahrer unfreiwillig über den Zebrastreifen geschoben werden, sagt sie und erläutert: „Es fehlt an Erfahrung, wie man mit den Behinderten umgehen soll. Die meisten bekommen dann Stress und wissen nicht, wie sie eingreifen und was sie tun sollen.“

Dabei sei der Zugang zu Behinderten meist viel leichter als zu anderen Menschen, betont Luttenberger: „Behinderte sind nicht so verschlossen. Man weiß, wie man bei ihnen dran ist, weil sie Freude und Kummer zeigen.“

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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