Die Kunst des Vergebens | Teil 06
Sich entscheiden für die Gegenwart

Wo die Bereitschaft für Vergebung da ist, kann sie zur Frucht reifen.  | Foto: Fotolia
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Ich bin gebürtig aus einer Gegend, die kaum christlich geprägt ist. Spreche ich dort mit Bekannten über den Prozess des Vergebens, dann stehen wir schnell vor der Frage: Braucht es ein spirituelles Fundament, um verzeihen zu können? Oder ist Vergeben-Können eine Leistung, die sich jemand erarbeitet – und sei es durch eine Therapie?

Zweifelsohne, Vergeben fällt einem nicht einfach in den Schoß, sondern es braucht das geduldige Arbeiten an Erinnerungen und Gefühlen. Doch jemandem wirklich von Herzen verzeihen zu können ist bei allem Engagement immer auch etwas, was sich der eigenen Verfügungsmacht entzieht.

Ich kenne niemanden, der oder die sagt: „Ich verdanke es allein meiner eigenen Selbst-optimierung, dass ich vergeben konnte.“ Insbesondere wer fähig ist, Schreckliches zu verzeihen, erlebt dies im Tiefsten auch als ein Geschenk: als etwas, das (in) ihm geschieht. Als eine Gnade.

Darin liegt die spirituelle Grunderfahrung, die auch die verschiedenen Religionen mit-einander verbindet: dass ich aus mehr lebe als aus der Kraft des eigenen Ich. Dass ich aus tieferen Quellen schöpfe als nur aus dem eigenen Können, Bewerkstelligen und Tun. Dass ich aufgehoben bin in einem größeren und tieferen Zusammenhang; in einem Zusammenhang, der Liebe heißt.

Vergebung braucht Bereitschaft

Forschungsergebnisse in den USA besagen, dass über 80 Prozent derjenigen, die einen Weg der inneren Aussöhnung gehen, im Verlauf des Weges eine „kosmische Perspektive“ einnehmen: dass sie also auf einen umfassenderen Zusammenhang hoffen, der sie trägt und der eine Verbundenheit schafft mit allem und allen – auch mit dem möglicherweise verhassten oder verachteten Konfliktpartner.

Ich bin davon überzeugt: Auf dem Weg der inneren Aussöhnung ist nicht nur unser Tun gefordert, sondern auch unsere Bereitschaft, geschehen zu lassen. Wenn wir uns bis zu einem bestimmten Punkt um Ver­gebung bemüht haben, dann kann diese wie eine Frucht in uns heranreifen, bis wir sie eines Tages – hoffentlich – in uns selbst vorfinden. Vergebung ist keine Geste, die wir beherrschen, sondern etwas, um das wir ringen und bitten können. Der Wunsch zu vergeben fordert uns heraus, dass wir uns einem größeren Geschehen überlassen, das sich wie „von selbst“ in uns ereignet. Er lädt uns ein, aus der Hoffnung zu leben.


Hoffnung wächst aus Vertrauen

Aus der Kraft der Hoffnung zu leben setzt Vertrauen voraus: Vertrauen ins Leben; Vertrauen, dass innere Aussöhnung „von selbst“ geschieht; Vertrauen, dass ich nicht alles in der Hand haben muss, sondern von der Hand eines anderen gehalten bin; Vertrauen, dass dort, wo ich nicht weiterkomme, Gott noch lange nicht am Ende ist.

In meinem eigenen Leben und in der Begleitung von Menschen erfahre ich immer wieder, welch große Rolle es im Prozess des Vergebens haben kann, wenn wir uns in Meditation und Gebet der liebenden Nähe Gottes öffnen. Wir brauchen nichts zu beschönigen oder außen vor zu lassen, sondern können alles, auch die dunklen, verworrenen Pfade unseres Empfindens, im Gebet vor Gott ausbreiten. Gott ist der Raum, in dem alles Platz hat und sein darf. Und manchmal stellt sich das ahnende Empfinden ein, von innen her liebevoll angeschaut zu sein.

Frieden schließen

Wenn Menschen auf diese Weise Schritt für Schritt mit einer erlittenen Verletzung Frieden schließen und heiler werden, dann kommen sie mit der Mitte unseres Glaubens in Berührung: Sie erfahren, dass das Christentum eine durch und durch therapeutische Religion ist. Aber leider wird seit der Aufklärung Religion recht häufig mit Moral verwechselt.

Umso dankbarer bin ich für die Spiritualität meiner Ordensgemeinschaft – der Salvatorianerinnen –, in der Jesus Christus als „salvator“, als Arzt und Heiland, im Mittelpunkt steht. Von Jesus werden viele Heilungsgeschichten erzählt. Ja, er nähert sich sogar den Aussätzigen, die aus der Gesellschaft brutal ausgestoßen werden.

Die ansteckende Gesundheit Jesu

Und das Eigenartige passiert: Jesus macht sich durch die Berührung nicht unrein, sondern die Unreinen werden durch seine Berührung rein. Jesus hat eine ansteckende Gesundheit. Nichts kann einen Menschen so sehr verändern wie die Erfahrung echter Liebe!

In lyrischer Schönheit drückt Hilde Domin aus, dass Liebe und Zuneigung Beziehungswunden heilen lassen (ihr Text: siehe oben). In einmaliger Weise gilt dies von der göttlichen Liebe, die ohne jeden Schatten ist.

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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