Expedition Fastenzeit | Teil 02
Mit Kraft aus dem Urvertrauen

Gerlinde Kaltenbrunner im Jahr 2008 am Dhaulagiri. Im Jahr zuvor wurde sie hier von einer Lawine verschüttet. | Foto: Pfisterer
  • Gerlinde Kaltenbrunner im Jahr 2008 am Dhaulagiri. Im Jahr zuvor wurde sie hier von einer Lawine verschüttet.
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In der Fastenzeit geht es auch um das Thema „Umkehr“. Sie sind als Bergsteigerin wiederholt vor der Situation gestanden, dass Sie umkehren mussten. Können Sie eine solche Situation beschreiben?
Gerlinde Kaltenbrunner: In besonderer Erinnerung ist mir die Umkehr am Lhotse. 100 Höhenmeter fehlten noch zum allerhöchsten Punkt. Der Gipfel war zum Greifen nahe, und dennoch entschieden wir uns zur Umkehr. In der Nacht zuvor gefallene 30 cm Neuschnee auf Blankeis in Kombination mit der sehr fortgeschrittenen Tageszeit erschienen uns als zu gefährlich. Das Risiko, nicht mehr ins Basislager zurückzukehren, war einfach zu groß. Eine ganz kleine Unachtsamkeit hätte bereits dafür genügt. Die Entscheidung war mir damals nicht leicht gefallen. Im richtigen Moment umkehren zu können gehört aber einfach dazu, um beim Bergsteigen alt zu werden.

Was spielt sich in Ihrem Kopf ab, wenn Sie zur Einsicht gelangen: Jetzt muss ich umkehren!?Ich versuche, die Situation realistisch einzuschätzen. Mein „Bauchgefühl“ schwingt bei solchen Entscheidungen immer mit. Sehe ich, dass Umkehren für mich das einzig Richtige ist, konzentriere ich mich sofort auf den bevorstehenden Abstieg. Dann denke ich nicht mehr darüber nach, ob ich eventuell doch anders hätte entscheiden sollen. Wenn ich das Basislager gesund und gut erreicht habe, schleicht sich meistens sofort der Gedanke an ein nächstes Mal ein.

Würden Sie demgegenüber auch ein „Gipfelerlebnis“ beschreiben, das für Sie unbeschreiblich war?
Die letzten Meter zum Gipfel des Kangchendzönga (8587 m) waren für mich ein Gefühl der absoluten Erfüllung. Nach langer, konsequenter Vorbereitung, starker Motivation, immer wieder auch Zweifeln, den höchsten Punkt des „Kangch“ zu erreichen, löste das in mir ein starkes Gefühl der Dankbarkeit aus. Im richtigen Augenblick riss die Wolkendecke auf, alle Gipfel rundum lagen unter uns, unbeschreiblich!

Als Bergsteigerin gehen Sie an die Grenzen des für Menschen Vorstellbaren – und zwar freiwillig. Haben Sie dabei auch Angst? Und wie gehen Sie damit um?
Erst möchte ich vorausschicken, dass das, was für andere Menschen unvorstellbar ist, für mich zu meinem Leben dazugehört, ich bin langsam in diese „Extreme“ hineingewachsen. Grundsätzlich bin ich keine ängstliche Person. Trotzdem gibt es immer wieder Situationen, in denen ich Angst verspüre. Diese Angst nehme ich bewusst wahr und lasse sie zu. Mittlerweile weiß ich, dass sie mich ein Stück davor schützt, meine Grenzen zu überschreiten.

Einen Gipfel nicht erreicht zu haben wird von vielen als „Scheitern“ bezeichnet. Sehen Sie das auch so?
Solange ich nach einer Umkehr kurz vorm Gipfel wieder gut und gesund ins Basislager komme, ist das für mich nicht „Scheitern“. Würde ich oder einer meiner Teamkollegen nicht mehr zurückkehren, dann sehr wohl.

Was lässt Sie menschlich mehr wachsen: das Scheitern oder das Gelingen?
Das Nicht-Gelingen gehört mit dazu. Es lässt einen „am Boden“ bleiben. Diese Erfahrungen brauche ich unbedingt, um auf der anderen Seite wieder vorwärts zu kommen. Ohne Rückschläge würde wahrscheinlich auch die Wertschätzung für das Gelungene ein Stück weit fehlen.

Sie verstehen sich als gläubige Christin. Spüren Sie das auch am Berg – und sonst im Leben?
Die Schöpfung zeigt sich mir vor allem in der Natur in ihrer Ursprünglichkeit. Sie lässt mich oft spüren, wie klein wir menschlichen Lebewesen sind im Vergleich zum großen Ganzen. Auf Expedition sowie im täglichen Leben spüre ich ein gewisses Urvertrauen, das mir Kraft gibt für die kleinen und großen Herausforderungen des Lebens.

Sie sind verheiratet mit einem Mann, der ebenfalls Extrembergsteiger ist. Haben Sie Angst um ihn, wenn er ohne Sie unterwegs ist? Sind Sie besonders angespannt in solchen Situationen?
Glücklicherweise sind wir sehr oft miteinander unterwegs. Wenn wir getrennt Unternehmungen starten, ist natürlich ein Stück weit die Sorge um den Partner mit dabei. Im Vordergrund steht für mich trotzdem das Vertrauen in seine Fähigkeiten und seine Vernunft und die daraus resultierenden guten Entscheidungen.

Haben Sie Angst vor dem Tod? Was bedeutet er für Sie?
Nicht vor dem eingetretenen Tod selbst, dieser gehört für jeden von uns dazu. Was ich mir nicht vorstellen möchte, ist, auf grausame Art mein Leben beenden zu müssen. Der Tod bedeutet für mich Abschied vom irdischen Leben.

Sehen Sie für das Leben der Menschen auf der Welt auch „Umkehr“ angebracht?
Der täglich steigende Konsum an Luxusgütern, Nahrungsmitteln, Natur und Bodenschätzen führt irgendwann unweigerlich zum Kollaps unserer Erde. Deshalb ist in vielen Bereichen ein Schritt zurück ganz dringend angebracht.

Interview: MATTHÄUS FELLINGER

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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