SONNTAG. Der Tag zum Leben | Teil 09
Mach’ mal Pause

In vielen Bereichen ist den Mitarbeitenden freie Zeit wichtiger geworden als Karriere und Geld. | Foto: Wodicka
  • In vielen Bereichen ist den Mitarbeitenden freie Zeit wichtiger geworden als Karriere und Geld.
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„Das mach’ ich am Wochenende“, sagt lachend meine Konzeptionerin und packt den Laptop in die Tasche. Draußen wartet der Freund im Cabrio zur Fahrt ins Wochenende. Arbeit am Sonntag und Erholung mit dem Lebenspartner ist für sie kein Widerspruch. „Wenn beide für zwei Stunden den Laptop auspacken, erzählen wir uns gegenseitig vom Job“, sagt sie, „dann ist die Woche verarbeitet, gleichzeitig lernen wir viel voneinander.“

Eine andere Szene aus meinem Arbeitsalltag: „Jetzt interessiert Sie bestimmt, warum ich mich für Ihre Agentur entschieden habe“, sagt der neue Artdirektor und schiebt den unterschriebenen Arbeitsvertrag zu mir herüber. In unseren Verträgen sind Bürobesuche am Wochenende untersagt beziehungsweise bedürfen der Genehmigung der Geschäftsleitung, ab fünf Überstunden in der Woche besteht ein Anspruch auf Freizeitausgleich. Mein neuer Mitarbeiter erzählt strahlend, dass er künftig 15.000 Euro weniger im Jahr verdient, dafür aber die Wochenenden frei hat. „Der größte Luxus ist freie Zeit“, meint er und freut sich auf die 45-Stunden-Woche.

In unserer Branche, der Agenturszene, ist bei Führungspositionen die 70-Stunden-Woche der Normalfall, unsere Regelung gilt als kleine Sensation. Noch vor einigen Jahren gab es zu diesen Punkten ganz andere Reaktionen. „Ich kann einer Idee doch nicht vorschreiben, wann sie kommt“, war zu hören oder „Sie wollen mir doch nicht vorschreiben, wann ich arbeiten will…“ Die Situation hat sich geändert, gerade den besten Mitarbeitern ist freie Zeit wichtiger als Geld und Karriere. Warum? Was steht hinter diesem Wertewandel?

 

Was wirklich wichtig ist, kann man nicht kaufen, es muss uns geschenkt werden

Die Erkenntnis setzt sich durch, dass der zehnte Anzug selbst dann nicht glücklich macht, wenn er von Armani ist. Wahres Glück besteht darin, dass andere Menschen mir ihre Zeit, ihre Zuneigung, ihre Liebe schenken. Gute Beziehungen brauchen Zeit, sie müssen gepflegt werden – gerade am Sonntag. Deshalb brauchen wir einen gemeinsamen Sonntag, den ersten Tag der Woche, und nicht nur individuelle Sonntage, also freie Tage des Einzelnen.

 

Soziale Kompetenz ist unverzichtbar

Hand aufs Herz: Wer möchte wirklich sein Unternehmen nach dem Rat eines Unternehmensberaters ausrichten, der gerade dabei ist, sich und seine Familie als Workaholic ganz offensichtlich zu ruinieren? Wer sein eigenes Leben an die Wand fährt, dem wird wohl kaum zugetraut, den Karren eines angeschlagenen Unternehmens aus dem Dreck zu ziehen. Erfolg im Beruf hängt immer stärker an der sozialen Kompetenz des Einzelnen. Gelingt es, als in sich stimmige Persönlichkeit überzeugend zu kommunizieren, wird es privat und beruflich aufwärts gehen.

 

Distanz und Nähe zur Arbeit – die Mischung muss stimmen

Längst gehören erfolgreiche Manager zu den Stammgästen in Klöstern. Hektik und Terminstress einerseits, Ruhe und Verzicht andererseits sind keine Widersprüche, sondern bedingen sich gegenseitig. Wer Distanz zur Arbeit bekommt, wird neue Prioritäten für sein Leben setzen. Die Folge davon: Der Mensch wird frei – frei davon, die Arbeit für den zentralen Inhalt seines Lebens zu halten. Das Schönste dabei ist: Er arbeitet dadurch besser, denn erst die Distanz ermöglicht eine neue Dimension der Nähe – man/frau wird kreativer, konzentrierter, intensiver. Das nützt dem Job, dem Unternehmen, vor allem aber dem Mitarbeiter selbst – eine klassische „Win-to-win“-Situation, das bedeutet: Beide Seiten profitieren.

 

Auf dem Weg zur Sinngesellschaft

All das zeigt: Wir sind auf dem Weg von der Konsum- zur Sinngesellschaft. Auch die laute Diskussion um Öffnungszeiten von Kaufhäusern an Sonntagen kann darüber nicht hinwegtäuschen: Immer mehr Menschen spüren, dass Selbstverwirklichung und Konsum um jeden Preis den Charme eines „Hamsters im Laufrad“ hat. Nein, Leben muss wieder Sinn machen, es braucht eine Achse, um das es sich drehen kann. In der Sinngesellschaft ist es der Sonntag, der diese Achse sein kann, der zur Mitte ruft, erinnert und die Mitte ritualisiert. Freilich empfindet diese Mitte jeder anders, so unterschiedlich der Sonntag gestaltet wird. Der gemeinsame und ausführliche Sonntagsbrunch, der Sonntagsspaziergang mit oder ohne Hund oder Pferd, der Sonntagabend am Kamin in der Familie oder mit Freunden – eben die Pause von der ICH-AG.

Gerade heute in Zeiten lebhaft geführter ethischer Diskussionen (von den Ladenschlusszeiten am Sonntag bis zur Gentechnologie) und der damit verbundenen Suche nach Sinn werden die Kirchen durchaus noch als zent-raler Marktanbieter in Sachen „Sinnvermittlung“ anerkannt. Ihr Beitrag zur konkreten Ritualisierung des Sonntags ist so nötig wie vermutlich nie zuvor. Gelingt hier der Kirche ein Durchbruch, würden nicht nur die Menschen, sondern auch die Unternehmen und die ganze Gesellschaft davon profitieren.

Das Schicksal der Volkskirche entscheidet sich auch heute an der Sonntagsfrage. Gerade in der Gestaltung des Sonntags braucht die Kirche unternehmerisches Denken und Handeln, um angemessene Angebote für die Sonntagsritualisierung zu entwickeln. Nicht die Botschaft der Bibel ist out – nein, sie ist hochaktuell, wie man sieht –, aber die Wege zu den Menschen müssen neu gefunden werden.

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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