Anstoß - Fastentraining mit dem Sonntagsblatt | Teil 06
Herz gegen Hirn

Fußball-Arenen – wie hier in Düsseldorf – erinnern an riesige Dome. | Foto: Begsteiger, SELBA, privat
  • Fußball-Arenen – wie hier in Düsseldorf – erinnern an riesige Dome.
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Da gibt es das Stadion mit dem grünen Rasen. Dann diese ominöse Kugel. Zwei Tore. Zweiundzwanzig Spieler. Und da sind all die anderen Zutaten, die unbedingt dazugehören: Dressen, Trainer, Trinkflaschen, Schiedsrichter, Anzeigetafel, Würstelstand. Oben am Rang steht einer, der von all dem nicht genug bekommen kann: der Fan. Der zwölfte Mann. Im Winter ist es kalt. Der Boden ist gefroren. Die Stadiontore sind verriegelt, die Ränge verlassen. In den fußballlosen Monaten neigt der echte Fan zur Melancholie mit bedrohlich depressivem Einschlag.

Ich bin auch ein Fan, ich gebe es zu. Obwohl ich schon groß bin. Irgendetwas in mir drängt, mich dafür zu rechtfertigen. Ich buchstabiere mein Fansein als begeisterte Anhängerschaft, aber nicht als Fanatismus.

In meinem Kopf tobt ein hartes Match. Herz gegen Hirn. Gefühl gegen Intellekt. Kind gegen Erwachsener. Das Kind spielt mit seinen älteren Brüdern und allen verfügbaren Buben auf einer Dorfwiese. Im Sommer täglich. Es gibt keine sozialen Unterschiede, was zählt, ist das Können am Ball. Das Leben ist ein Fußballspiel: Jubel und Freude, Spannung und Dramatik, Enttäuschung und Tränen. Die unbändige Freude über ein Tor. Das süße Gefühl des Sieges. Wie bitter aber die Niederlage schmeckt. Die Schmach eines „Gurkerls“, eines „Eiergoals“, will verdaut werden.

Das Kind sammelt Fußballbilder in einem Album und hütet dieses wie einen Schatz. Das Kind liest die „Spatzenelf“ von Karl Bruckner, „Elf rote Teufel“ von Ben Harder, schneidet Berichte und Fotos von Spielern aus und klebt sie in ein Heft, versieht sie mit selbstformulierten Bildtexten: die Fußballsprache als erste Fremdsprache. Von selbst bildet sich ein reiches Vokabular an Namen, Zahlen, Fakten: Der Sturmberger. Der Köglberger. Der Harrei-ther. Längst haben fast alle mathematischen Formeln meinen Kopf verlassen, die Namen der Weltmeistermannschaft von 1970 sind geblieben: Pele, Tostao, Rivelinho.

Der Pubertierende geht erstmals zu einem Spiel auf die Linzer Gugl: LASK gegen Austria. Diese Samstagnachmittage schmecken in der Erinnerung nach Aufhebung der Zeit. Das erwartungsvolle Raunen am Stehplatz, bevor es losgeht. Das enttäuschte Aufstöhnen, wenn ein Schuss danebengeht, der befreite Jubel, wenn die eigene Mannschaft einnetzt. Samstage zu Hause sind fürs Radio reserviert. Der Jugendliche fläzt sich auf das Sofa und hört Sport und Musik, die Konferenzschaltung von den aktuellen Spielen mit Edi Finger und den anderen Reportern: eine dramatische Fußballsprachsymphonie aus Tragödien und Triumphen, Verzweiflung und Größenwahn, Zweikämpfen und Abstiegskrämpfen. Der jugendliche Fußballfan begleitet seinen Bruder zu den Spielen der Union Alberndorf. Wer schreibt die Elegie auf den Sonntagfußballnachmittag im herbstlichtgefluteten Leopoldschlag, wer überliefert die Melange aus frisch gemähtem Rasen und Leberkässemmeln von Rainbach? Wieder Jahre später: Der junge Student kostet in Vöcklamarkt die würzige Luft der zweiten Division, leidet mit Timelkam, das im Aufstiegsspiel scheitert.

So schwelgt das Kind in mir, breitet Erinnerungen aus, idealisiert, spricht mit fremder Zunge: Der argentinische Weltmeistertrainer von 1978, Cesar Luis Menotti, unterscheidet in seinem Manifest „Fußball aus der Tiefe des Volkes“ einen Fußball der „Rechten“ und der „Linken“: „Der Fußballsport gehört dem einfachen Volke. (…) Er beinhaltet alle Werte der Arbeiterklasse. (…) Es sind Werte, die dem Menschen einen Ausweg bieten, die ihn anspornen, in Würde, Gerechtigkeit und Freude zu leben. (…) Beim Fußball der Linken spielen wir nicht einzig und allein, um zu gewinnen, sondern um besser zu werden, um Freude zu empfinden, um ein Fest zu erleben, um als Menschen zu wachsen.“

Das ist so schön idealistisch formuliert, sagt der Erwachsene in mir, dass es der Papst auch nicht besser gekonnt hätte. Allein, zu einem Bekenntnis à la Menotti fehlt mir heute doch der wahre Glaube. Vor kurzem habe ich in der Zeitung gelesen, dass der deutsche Mittelfeldspieler Michael Ballack 32.000 Euro verdient. Täglich bitte. Für Ballacks Jahreseinkommen müsste jemand mit dem österreichischen Durchschnittsbruttoeinkommen 473 Jahre lang arbeiten. Das ist die andere Seite (und hier spricht mein Kopf): Beim Fußball heute geht es vor allem um Geld. Dann kommt lange nichts. Oligarchen kaufen ganze Klubs, reiche Magnaten, die gern einmal im Rampenlicht stehen wollen, blähen Dorfklubs zu Bundesligavereinen auf, um ein paar Jahre später die Lust an der Sache zu verlieren, und verkaufen die Lizenz an den Bestbietenden. Und in den Stadien: Allerorten VIP-Räume, VIP-Klubs, VIP-Parkplätze. Geld und Macht schreien nach sozialer Abgrenzung. Und der Fan: erwünscht als Stimmungsmacher und als Zaungast bei der EM: Karten sind in der Lotterie zu gewinnen. Oder, wie die Bibel sagt: Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein normaler Fan ins Stadion kommt.

Abpfiff jetzt, das Spiel ist aus. Herz gegen Hirn: Endet, sagen wir, unentschieden. Sagen wir so. Nach dem Spiel ist sowieso vor dem Spiel. Irgendwo ist immer ein Platz, wo es allein darum geht, dass der Ball ins Tor muss.

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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