Zeitdiagnose | Teil 08
Die USA sind anders, die Europäer auch

Massenevangelisationsveranstaltungen in den Vereinigten Staaten lösen oft tiefe Emotionen aus. | Foto: wmc
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Traditionell beginnen die Vorwahlen für den vielleicht mächtigsten Politiker auf Erden, der 2017 auch eine Politikerin sein könnte, in Iowa, einem agrarisch geprägten Bundesstaat im „mittleren Westen“ der USA.

Und während sich bei den Demokraten das erwartete Duell zwischen Hillary Clinton und Bernie Sanders schon von Beginn an zuspitzt, scheint das Rennen um den Kandidaten der Republikaner noch weitaus offener zu sein. Durchgesetzt hat sich in Iowa letztlich Ted Cruz, Senator des Bundesstaates Texas, der in seiner ersten öffentlichen Reaktion die „Ehre“ dieses Erfolges niemand Geringerem als Gott selbst zukommen ließ.

Für die meisten europäischen Medien und Politikbeobachter war die Schublade schnell gefunden: Cruz, der ein Naheverhältnis zur Tea-Party-Bewegung hat, ist ein Vertreter einer extrem konservativ-religiösen Ausrichtung; im Gegensatz zum latent populistisch-fremdenfeindlichen Donald Trump bestenfalls noch das „geringere Übel“. Cruz, so die Kurzformel, sei der Kandidat der evangelikalen Christen.

Solche Zuschreibungen, meist mit demokratiepolitischer Überlegenheitspose formuliert, sagen aber zumindest ebenso viel über Europa aus wie über die USA. Während in der „alten Welt“ politisches Handeln, das aus explizit religiösen Überzeugungen seine Werte bezieht, oft und meist auch ohne Begründung als „vormodern“ oder zumindest als „demokratiebedenklich“ abgelehnt wird, ticken die politischen Uhren jenseits des Atlantiks doch ganz anders. Obwohl oder gerade weil die Trennung von Kirche(n) und Staat in den USA ein Grundpfeiler der nationalen Identität ist, spielt Religion (auch) im öffentlichen Leben eine ungleich größere Rolle als in den meisten Staaten Europas. Auch Ungarn oder neuerdings Polen bilden hier keine Ausnahme, hier hat das ideologisch hoch aufgeladene Bekenntnis zur christlichen Identität wohl mehr die Funktion eines nationalen Markers.

In den Staaten ist das religiöse Bekenntnis im Regelfall dagegen viel mehr Ausdruck eines persönlichen freien Bekenntnisses. Die Siedlungsväter, und das darf nicht übersehen werden, waren Glaubensdissidenten, die in Europa verfolgt und aus ihren Heimatländern vertrieben worden sind. Auch bedeutende und erfolgreiche Bürgerrechtsbewegungen des letzten Jahrhunderts, von Martin Luther King bis zu den Black Muslims, waren religiös geprägt. Der Glaube befreit!

Nicht die Zugehörigkeit zu einer Kirche ist prägend, für die notorisch institutionskritischen US-Amerikanerinnen und US-Amerikaner ist die Realisierung ihres persönlichen Lebensentwurfes, ihr „way of life“, die vorrangige Motivation.

Evangelikale Christen sind zwar glaubenstreu, aber nicht kirchenhörig. Während in Europa Säkularisierung immer auch die Überwindung kirchlicher Machtapparate bedeutet hat, ist in den USA nicht nur den evangelikalen Christen ihr Glaubensbekenntnis Ausdruck ihres demokratischen Selbstbestimmungsrechtes.

 

Hans Putzer

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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