Gott in Frankreich | Teil 05
Die Kinder des Don Quijote

Die Pariser Hilfsorganisation „Die Kinder des Don Quijote“ spendete über 100 rote Zelte für Pariser Obdachlose. | Foto: KNA
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Noch immer nennt man ihn „le clochard“. Die Bedeutung des Begriffes hat sich aber längst ins Gegenteil verkehrt: Keine Spur mehr vom romantischen Aussteiger-Leben eines neurotisch-fröhlichen Künstlers unter der Seine-Brücke, über den Pariser früher meinten, dass er mitunter freiwillig auf ein Dach über dem Kopf verzichtet.

Heute sind Obdachlose in Frankreich vor allem jung, immer häufiger weiblichen Geschlechts, und rund ein Drittel von ihnen geht bezahlten Tätigkeiten nach – für Löhne, die nicht reichen, um eine Wohnungsmiete zu bezahlen. Offiziellen Zahlen zufolge leben hierzulande etwa 86.500 Menschen als Obdachlose, und rund eine Million fristet ihr Leben in Wohnwagen, Kellern, Garagen oder Heimen. Die kirchliche Stiftung Abbé Pierre spricht sogar von insgesamt 3,2 Millionen „schlecht untergebrachten“ Franzosen. Das offizielle Kürzel „sdf“, das für Menschen „ohne fixe Unterkunft“ (sans domicile fixe) steht, beschreibt jedenfalls einen ständig größer werdenden Teil der französischen Bevölkerung.

 

Kampagne für Obdachlose
Vor fünf Monaten hat eine Pariser Hilfsorganisation namens „Les Enfants de Don Quichote“ (Die Kinder des Don Quijote) die vorweihnachtliche Solidarität genutzt und eine europaweit Aufsehen erregende Medienkampagne gestartet, um auf die erschreckende Armut der französischen Obdachlosen aufmerksam zu machen: Sie spendete über 100 rote Zelte, stellte sie in einem idyllischen Pariser Viertel entlang des Kanals Saint Martin auf und lud prominente Künstler, Politiker und Journalisten ein, mit den Obdachlosen eine Nacht in den Zelten zu verbringen. „Wenn zigtausende Franzosen in Zelten übernachten, werden sich die Dinge ändern“, war der Schauspieler Augustin Legrand, einer der Initiatoren, überzeugt. Bald darauf breitete sich die Aktion auch auf andere französische Städte aus, was zur Folge hatte, dass Präsident Chirac während seiner traditionellen Fernsehansprache zu Neujahr ein einklagbares Recht auf Unterkunft versprach. Das Gesetz wurde Anfang des Jahres beschlossen und soll ab 2008 schrittweise in Kraft treten.

 

Rückzug
Vor einigen Wochen hat die Hilfsorganisation den Protest entlang des Kanals Saint Martin eingestellt – aber aus Resignation. Den „Kindern des Don Quijote“ gehen die Zugeständnisse der Regierung nicht weit genug. Aufgrund der Präsidentschaftswahlen und der anschließenden Bildung einer neuen Nationalversammlung seien in nächster Zeit jedoch keine Verbesserungen für Obdachlose zu erwarten, kommentierten die Initiatoren ihren Rückzug von diesem öffentlichen Platz. Sie verlangen zusätzliche Unterkünfte für Menschen in Not. Auch im nächsten Pariser Winter werde man Obdachlosen beim Erfrieren zusehen, prophezeit man.

Dass Gesetze allein nämlich keine Lösung sind, wenn der (politische) Wille fehlt, zeigt eine andere Regelung: Seit dem Jahr 2000 schreibt die französische Regierung vor, 20 Prozent der Neubauten als Sozialwohnungen zu konzipieren. Doch viele Gemeinden bevorzugen es, die vorgesehenen Strafen zu bezahlen. Nicht umsonst heißen Obdachlose in Frankreich auch „marginaux“, was „Randgruppe“ – aber ebenso „nebensächlich“ und „unwichtig“ bedeutet.

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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