Naher Osten
„Es geht nicht immer um Religion“

Zu Gast in Salzburg: Karim El-Gawhary stellt sein neuestes Buch (Verlag Kremayr und Scheriau) vor. Darin beleuchtet er die Situation zehn Jahre nach dem „arabischen Frühling“. | Foto: RB/mih
  • Zu Gast in Salzburg: Karim El-Gawhary stellt sein neuestes Buch (Verlag Kremayr und Scheriau) vor. Darin beleuchtet er die Situation zehn Jahre nach dem „arabischen Frühling“.
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Bald zehn Jahre ist es her, dass die Menschen in Ägypten 18 Tage lang auf dem Tahrir-Platz für Demokratie protestierten. Warum Nahost-Korrespondent Karim El-Gawhary keineswegs frustriert ist vom langen Atem, den eine Revolution braucht – und warum es falsch ist zu glauben, dass in der arabischen Welt alles islamisch tickt.

RB: Schon vor der Brandkatastrophe im Hafen Beiruts litten die Menschen im Libanon unter Hunger. Der neue Premier steht nicht im Verdacht, einen Wandel einzuläuten. Und nun?
El-Gawhary: Der Libanon hat sich schon vor dieser Explosion im freien Fall befunden und man hat immer nur gewartet, wo er aufschlägt. Früher war er „die Schweiz des Nahen Ostens“. Heute lebt mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Armut und hängt von Nahrungsmittelhilfen ab. Das politische System ist auf konfessioneller Basis aufgebaut und total korrupt. Wie verändert man dieses System, ohne Parteien, Opposition oder Strukturen – das ist das große Thema der Libanesen, dem sie sich stellen müssen.

RB: Welche Fehler sollen neue Protestbewegungen nun nicht mehr machen?
El-Gawhary: Lektion eins ist, dass man einen langen Atem braucht. Es reicht nicht, den Diktator zu stürzen. Das ganze System muss sich ändern. Die zweite Vorgabe ist, friedlich zu bleiben. Proteste dürfen sich nicht militarisieren. Gegen eine bewaffnete Opposition vorzugehen ist viel einfacher als gegen friedliche Demonstranten. Und die Leute haben gelernt, dass zu frühe Wahlen ohne neue Strukturen keinen Sinn machen.

RB: Hat Europa ein falsches Bild von der arabischen Welt?
El-Gawhary: Oft. Dabei reden wir über keine exotische Region, sondern über die unmittelbare Nachbarschaft Europas. Ein Problem ist, dass man versucht, die arabische Welt über Religion zu erklären. Aber nicht alles tickt islamisch. Ich sehe mein Buch als Gegengewicht und beschreibe die sozialen und wirtschaftlichen Missstände, die zu Unruhe in diesem Gebiet führen. Armut, Ungleichheit, Machtlosigkeit – das ist das unselige arabische Dreigespann. Nach UN-Statistiken ist es die Region mit den allerhöchsten extremen Armutsraten, ganz ohne Mitspracherecht für die Betroffenen. Wir blicken immer mit der religiösen Brille darauf anstatt zu schauen, wo die Gründe für Missstände wirklich liegen.

RB: Wie soll unsere Politik handeln?
El-Gawhary: Der europäische Einfluss auf die Geschehnisse ist ein begrenzter. Die Regionalmächte sind der Iran, die Türkei und Saudi-Arabien. Sie haben eine wesentlich größere Kraft als der Norden. Was aufhören muss ist das Hofieren von arabischen Autokraten. Das passt nicht zu den europäischen Werten von Menschenrechten und Gleichberechtigung.

RB: Sie sind seit 1991 als Journalist im Nahen Osten unterwegs. Entmutigt der langsame Systemwandel?
El-Gawhary: Ägypten steht unter Militärherrschaft. In Syrien regiert der übelste Diktator über einem Scherbenhaufen. In Libyen herrscht Chaos. Politische Entwicklungen sind ein Prozess, kein Rückschritt. Aus dem arabischen Frühling ist keine Eiszeit geworden. Repression und Rebellion liefern sich einen Wettlauf. Aber die Unterdrückung hat irgendwann ein Ablaufdatum, wenn sich die Lebenssituation der Menschen nicht verbessert. Das erleben wir im Irak, Sudan, Libanon und in Algerien. Die jüngere Generation stimmt mich zuversichtlich, denn sie wollen längst nicht mehr alles hinnehmen.

RB: In Weißrussland tragen derzeit Frauen die Revolution. Welche Rolle spielen denn die Frauen bei den Protesten im arabischen Raum?
El-Gawhary: Ich war im Sudan dabei, da war ihr Part wahnsinnig wichtig. Wenn man auf die Demonstrationen im Irak schaut oder im Libanon, sieht man auch ganz viele junge Frauen. Ihre aktive Teilnahme ist selbstverständlich und es waren nicht nur Studentinnen. Sie kamen aus allen sozialen Schichten. Dabei ist der Wandel kein Frauenthema. Er geht alle an. 

Ingrid Burgstaller/Michaela Hessenberger

Zur Person
Karim El-Gawhary ist seit 1991 Nahostkorrespondent für verschiedene deutschsprachige Zeitungen. Seit 2004 leitet er das Nahostbüro des ORF in Kairo. Seine journalis-tische Arbeit wurde bereits mehrfach ausgezeichnet. 2011, 2013 und 2018 wurde er als Journalist des Jahres in Österreich in der Kategorie Außenpolitik geehrt, 2013 erhielt er auch den Hauptpreis.

El-Gawhary wurde 1963 in München geboren, studierte Islamwissenschaften und Politik mit Schwerpunkt Nahost in Berlin. Mit „Repression und Rebellion“ legt er sein bisher fünftes Buch vor. Der Autor und Journalist ist verheiratet und Vater von drei Kindern.

Autor:

Ingrid Burgstaller aus Salzburg & Tiroler Teil | RUPERTUSBLATT

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