Anna Parr im Gespräch:
Die Caritas ist ein soziales Fieberthermometer

Foto: Caritas/Hloch

Seit 1. Oktober ist Anna Parr die erste Frau als Generalsekretärin der österreichischen Caritas. Ein Gespräch über Armut in Österreich, Pflegenotstand und darüber, wie politisch die Caritas sein muss.
von Gerald Heschl

Sie sind von einem großen sozialen Anbieter vor kurzem zur Caritas gewechselt. Was bedeutet Caritas für Sie?
Parr: Die Caritas hat den Leitsatz „Not sehen und handeln“. Das hat mich in den vergangenen 20 Jahren beruflich im NGO-Bereich begleitet. Ich habe immer nach Möglichkeiten gesucht, Menschen, die Hilfe brauchen, eine solche anzubieten. Das war bei meinem früheren Arbeitgeber so und es ist auch bei der Caritas so. Ich fühle mich hier vom Auftrag und den Angeboten her sehr zu Hause. Das entspricht mir auch als Mensch. Ich glaube, dass jeder einen Beitrag leisten kann, um die Welt ein bisschen besser zu machen.

Dieser Sonntag ist Elisabethsonntag. Der Papst hat ihn zum Welttag der Armen erklärt. Wo sehen Sie derzeit die größten Herausforderungen für die Zukunft?
Parr: Schon vor Corona waren Armut und Armutsgefährdung in Österreich ein großes Thema. Viele Menschen müssen jeden Euro drei Mal umdrehen und überlegen, ob sie Lebensmittel oder ein Kleidungsstück kaufen. Wir haben derzeit mehr als 1,16 Millionen Menschen, die armutsgefährdet sind. Darunter sind 231.000 Kinder. Ich meine, Armut ist in Österreich nach wie vor unsichtbar.

Wie hat sich die Corona-Pandemie darauf ausgewirkt?
Parr: Die Pandemie hat die Situation noch einmal verschärft. Wir erkennen das in den österreichweit 53 Sozialberatungsstellen. Seit März kommen immer mehr Menschen zum ersten Mal zur Caritas und bitten um Hilfe und Beratung. Sie hätten nie gedacht, dass sie Hilfe von uns benötigen.

Was erwarten Sie sich nun vom zweiten Lockdown?

Parr: Wir blicken mit großer Sorge auf die nächsten Monate. Es gab im Frühjahr Stundungen von Mieten oder Energierechnungen. Diese werden nun fällig. Die Menschen können das aber nicht bezahlen. Hier braucht es eine Lösung von Politik und Wirtschaft. Wir können in vielen Fällen über die Sozialberatungsstellen helfen, dass die Wohnung wenigstens warm bleibt. Denken Sie an die vielen Arbeitslosen oder Sozialhilfe-Empfänger, die in Not geraten sind. Es wäre wichtig, dass sie genügend Geld haben, um wenigstens die wichtigsten Rechnungen bezahlen zu können.

Das ist der finanzielle Effekt. Wie sieht es mit den psychischen und sozialen Folgen aus?
Parr: Einsamkeit nimmt generell zu. Wir sehen, dass Kinder und Jugendliche ganz besonders betroffen sind. Das begann mit den Schulschließungen im ersten Lockdown. Es gibt Studien über die negativen Folgen dieser Maßnahme. Besonders Kinder fühlten sich am häufigsten einsam. Dazu kommen die existentiellen Sorgen der Eltern. Junge Menschen haben oft den Anschluss in der Schule verloren oder finden derzeit keine Arbeit. Wir müssen wirklich darauf achten, dass die Folgen für diese Generation abgemildert werden. Seitens der Caritas wollen wir gerade Kinder und Jugendliche unterstützen.

Werden viele Auswirkungen nicht erst in fernerer Zukunft spürbar?

Parr: Wir sind froh, dass es seitens der Regierung kurzfristige Hilfestellungen gibt. Aber es gibt auch hier Lücken. Auf lange Sicht muss jetzt weiter an den großen Reformen gearbeitet werden. Mittel- und langfristige Maßnahmen muss man jetzt schon verankern. Zum Beispiel braucht es einen Pakt gegen Kinderarmut. Das ist etwa die materielle Absicherung für Familien mit Kindern. Es geht um die Förderung der Gesundheit, die soziale Teilhabe und insbesondere darum, dass Kinder weiter dieselben Chancen auf Bildung haben sollen. Bildungsarmut wird vererbt. Man muss daher unbedingt in die Bildung der Kinder investieren.

Das sind Forderungen an die Politik. Wie weit darf, soll oder muss die Caritas politisch sein?
Parr: Es geht uns nicht darum, politisch zu sein. Aber wir sind durch unsere täglichen Kontakte mit vielen Menschen so etwas wie ein soziales Fieberthermometer. Wir erkennen ganz früh, was sich verändert, wo neue Nöte entstehen. Darauf weisen wir hin. Aus unserer Erfahrung können wir auch den einen oder anderen Vorschlag machen, wie man dieser Situation am besten und schnellsten begegnet, was den Menschen hilft. So ist es zu verstehen, wenn wir etwas fordern. Dabei geht es in erster Linie um einen Dialog mit der Politik, in den wir uns mit unserem Wissen aus der sozialen Realität von vielen Menschen einbringen.

Ein Bereich, der sich mit Corona noch einmal zugespitzt hat, ist der Pflegebereich. Welche Maßnahmen sind notwendig, damit es zu keinem Pflegenotstand kommt?
Parr: Corona hat natürlich eine enorme Auswirkung auf Pflege- und Sozialberufe. Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind enorm gefordert. Aber schon vor Corona war eine umfassende Pflegereform dringend notwendig. Wir wissen, dass wir aufgrund der demographischen Entwicklung in den nächsten zehn Jahren 75.000 Personen im Pflege- und Sozialbereich ausbilden müssen, um nur die bestehenden Angebote aufrechterhalten zu können. Das heißt, wir brauchen eine sehr schnelle Ausbildungsoffensive.

Da muss sich auch am Berufsbild etwas ändern. Wie sonst sollen sich so viele Menschen in so kurzer Zeit ausbilden lassen?
Parr: Das Image des Pflegeberufes muss sich verbessern. Es ist ein extrem schöner, vielfältiger Beruf. Wir müssen junge Menschen oder Quereinsteiger begeistern. Es gibt so viele Möglichkeiten, sich in diesen Berufen weiterzuentwickeln. Aber die Ausbildung muss kostenlos und flächendeckend angeboten werden. Ich bin sehr froh, dass das Sozialministerium im Oktober einen ersten wichtigen Schritt gesetzt hat. Es gibt einen umfassenden Dialog mit den unterschiedlichsten Organisationen, wo wir uns als Caritas sehr stark eingebracht haben. Bis Ende des Jahres sollen die ersten Zwischenergebnisse und weitere Schritte feststehen. Wir sind sehr froh, dass dies trotz der Pandemie gelungen ist.

Autor:

Gerald Heschl aus Kärnten | Sonntag

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